Jussifs Gesichter
der Stimme aus dem Kassettenrekorder nach. Wenn ich tatsächlich eingeschlafen wäre, hätte ich sie nicht mehr hören können. Seit ich den Kassettenrekorder eingeschaltet hatte, um mir die Aufnahmen anzuhören, hatte ich das Gefühl, das Bett starre mich an, fordere mich geradezu auf, seinem Ruf nachzukommen und meinen erschöpften Körper daraufzuwerfen. Ich war wirklich müde, nachdem ich mehr als einen Tag hatte wach bleiben müssen – von der Morgendämmerung bis nach Mitternacht des folgenden Tages, als ich ihn ins Krankenhaus brachte. Sein Arzt hatte mir mitgeteilt, dass er verletzt und völlig verzweifelt sei. Wenn das elfjährige Mädchen nicht gewesen wäre, das neben ihm auf dem Bett saß und mit kindlicher Stimme sagte: »Er besteht darauf, dass Sie bleiben, er ist noch am Leben!«, hätte ich nicht geglaubt, dass er noch einmal die Augen öffnen würde. Außerdem sagte er sofort: »Wenn du die Wahrheit erfahren willst, hör dir an, was der Kassettenrekorder erzählt.« Er schien trotz seiner Schwäche zu wissen, dass ich eine Antwort verlangen würde und er seine Schulden begleichen müsse, um mich für das Schweigen zu entschädigen, mit dem er meinen Fragen und meinem Wunsch, er solle sich einer Behandlung unterziehen, begegnete. Was er am ersten Tag sagte, als sie ihn mit gefesselten Händen brachten, glaubte ich ohnehin nicht: »Ich bin ein hoffnungsloser Fall, genauso wie die anderen verzweifelten Fälle in diesem Land der Siegreichen und der Gedemütigten.« Auch er selbst konnte diese Worte nicht mehr vergessen und wiederholte sie bei jedem meiner Besuche im Krankenhaus. Einmal jedoch fügte er etwas hinzu, was mir im ersten Moment wenig logisch erschien: »Erst jetzt weiß ich, dass ich leben werde.« Dabei schaute er das kleine Mädchen an. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, wer sie eigentlich war. Die Tatsache, dass sie mich vomKrankenhaus bis hierher, an diesen Ort, dessen Adresse er mir gegeben hatte, begleitete, steigerte meine Verwirrung nur noch. In diesem Haus mitten in der Stadt, in dem er sich jahrelang verkrochen hatte, fand ich zahlreiche Kassetten, die nur auf mich zu warten schienen. Auf ihnen hatte er alles erzählt, was ihm zugestoßen war (oder wovon er glaubte, es sei ihm zugestoßen). Ja, er beharrte darauf, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen. Und an eben diesem Ort öffnete ich jetzt die Augen und merkte, dass ich in seinem Bett schlief.
Noch war alles mysteriös, voller Geheimnisse, wie die Dunkelheit, die sich draußen ausbreitete, wie der Zweifel, der seit Betreten dieses Hauses gestern Nacht auf mir lastete. Nicht nur meine Intuition sagte mir, dass sich noch jemand anders dort aufhalten und zurückkehren würde, je länger ich bliebe. Auch sonst deutete alles darauf hin: Die Haustür war offen; ich musste sie nur ein wenig anstoßen, um eintreten zu können. Die Kassetten auf dem Tisch zogen sofort den Blick auf sich, das Zimmer war sauber und ordentlich. Es war, als hätte man den Ort für meinen Aufenthalt vorbereitet, als sei es mir überlassen, ob ich bliebe oder ginge. Heute erinnere ich mich nicht mehr, ob ich mir darüber Gedanken machte, bevor ich einschlief. Ich hatte mich vor den Kassettenrekorder gesetzt, um mir die Kassetten von vorn bis hinten anzuhören. Vielleicht entdeckte ich es erst im Moment meines Erwachens aus einem endlosen Traum – am besten zu beschreiben als Albtraum, in dem ich wieder und wieder die Worte hörte: »Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.« Von welchem Tag, von welchen Schulden sprach die Stimme? Sicher meinte der Sprecher einen anderen, sagte ich mir, als ich langsam die Augen öffnete. Doch vor mir auf dem Tisch im Salon sah ich nur den Kassettenrekorder, einen Aschenbecher, zwei Dosen Bier und daneben einen Kindercomic, verstreute Kassetten und eine Tageszeitung.
Paradoxerweise dachte ich, der Kassettenrekorder hätte mich aufgeweckt und die warnende Stimme käme von dort, aus dem Rekorder. Doch aus dem war nur ein Krächzen zu hören. Ich schreckte zusammen, merkte aber, dass die Kassette zu Ende war. Die Stimme kam von meiner Seite, aus der Gegend meiner Ohren. Ich fragte mich, wem sie wohl gehören mochte. Gehörte sie wirklich ihm: Jussif Mani? Ich war noch wie gelähmt, wie jeder, der gerade aus dem Schlaf erwacht und sich in meiner Lage befindet. Jussif Mani war vor sich selbst auf der Flucht und nicht vor mir, wie ich zunächst angenommen hatte. Er wollte die Geschichte
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