Jussifs Gesichter
noch an diese toten Gestalten gedacht, die abwesend und doch in seiner Nähe waren und ihn mit stets derselben Frage quälten: »Warum hast du mich getötet?« Er konnte nicht vor ihnen flüchten außer in den Schlaf. Er schlief tage-und nächtelang, tat nichts als schlafen. Doch als ihn der Stimmenbesitzer im Schlaf heimzusuchen begann, konnte er die Augen keine Minute mehr schließen und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er erschien sich selbst als Toter. Als er im Morgengrauen nach ein paar Sekunden Schlaf aufwachte und verwirrt und schweißüberströmt das Licht einschaltete, sagte er zu sich: »Diesem entseelten Mann mit seinem offnen Mund, dem getrockneten Speichel, den toten Augen möchte ich nicht noch einmal begegnen.« Es war ihm zuwider, Hunderte und Aberhunderte Male diesen vergessenen, sich ständig ändernden Leib auf dem gleichsam in einen Felsen verwandelten Ehebett zu sehen. Er musste endlich aufwachen und diesen Ort verlassen! Dies war die letzte Möglichkeit zu leben, was auch immer geschehen mochte.
»Was geht Ihnen durch den Kopf, mein Sohn?«, fragte der Fahrer und betrachtete ihn im Rückspiegel. »Sie denken bestimmt an den toten Sajjid. Stellen Sie sich vor, man wird ihmein riesiges Mausoleum bauen und ihn dort begraben. Doch ist bis jetzt nicht bekannt, wer ihn ermordet hat.«
Wie gern hätte er erwidert, ja ja, es ist gut, dass die Menschen ein Mausoleum ohne Leichnam bauen. Die Zeit der Phantome ist bei uns angebrochen; sie vergeht schneller als die irdische Zeit.
Doch der Fahrer fuhr fort: »Abgesehen davon, dass der Sajjid ein Gelehrter der verschiedensten Fachbereiche war, war er auch ein Dichter. Ich erinnere mich an eines seiner Gedichte. Darin schreibt er, dass er direkt von den Engeln abstamme und dass er, wenn er zwischen dem Tod und einem gedemütigten, erniedrigten Leben die Wahl hätte, es vorziehen würde, diese lasterhafte Welt zu verlassen und in die keusche Gemeinschaft der Toten einzutreten.«
Jussif überlegte, woher dieser Mann die Überzeugung haben mochte, von den Engeln abzustammen. Wenn die Sache so einfach war, hätte er es ihm schon vor langer Zeit gleichgetan und wäre nicht weiterhin durch die Welt der Phantome gegeistert. Er selber würde nie eine Antwort darauf finden.
Er sah zu, wie der Fahrer behutsam das Taxi lenkte und gleichzeitig im kleinen Seitenspiegel die Prozession beobachtete, die langsam zu verschwinden begann. Auch der Fahrer hatte eines dieser grauen Gesichter. Jussif wollte wieder imstande sein, seine eigene Geschichte zu formen. Er wollte wieder sagen können: »Dies bin ich, ich ganz allein.«
»Mein Herr, wo in der Raschid-Straße möchten Sie aussteigen?«, vernahm er die Stimme des Fahrers.
Er blickte um sich und stellte fest, dass sie das Tor zum Hafiz-al-Qadi-Viertel erreicht hatten. Er bat den Fahrer, aussteigen zu dürfen, und zahlte ihm das Geld für die Fahrt.
Der Fahrer flüsterte, als er das Geld entgegennahm: »Ihre Freunde sind hinter Ihnen ausgestiegen.« Dabei beobachtete er sie im Seitenspiegel.
Jussif griff wortlos nach seinem Koffer, stieg schnell aus und schlug die Wagentür hinter sich zu. Vorsichtig blickte er nach hinten. Wieder entdeckte er die beiden Männer. Er zuckte gleichgültig die Schultern und beschloss, sich nicht um sie zu kümmern. Vielleicht gelänge es ihm, sie in die Irre zu führen, wie schon so oft. Rasch überquerte er die Fahrbahn und näherte sich auf der rechten Seite der Raschid-Straße dem Maraba’-Viertel. Als er unmittelbar danach den alten Platz erreichte, auf dem sich der Arosdibbek -Supermarkt befand, blieb er stehen, um die Schaufenster zu betrachten. Als er sein Spiegelbild auf der Glasscheibe entdeckte, fragte er sich, ob er wirklich krank aussehe, wie Sarab und der Arzt behauptet hatten. Oder zeichnete sich auf seinem Gesicht einfach nur die Erschöpfung ab? Wieder überlegte er, für welches Gesicht er sich entscheiden sollte: für das eigene oder das seines Widersachers? Sein Gesicht als kleines Kind, als Knabe oder als junger Mann, bevor es sich zu dem des Erwachsenen entwickelte, der er jetzt war, vor Beginn dieser Odyssee? Wann hatte es angefangen? In der Kindheit? Nein, er war ein naives Kind gewesen, das den Wünschen des Bruders gehorchte. Damals war sein Bruder sein Vorbild und sein Idol. Er wollte in seine Fußstapfen treten und von ihm lernen, Masken zu tragen und das ursprüngliche Gesicht dahinter zu verbergen.
Sogar vor seinem Gesicht hatte er Angst. Man
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