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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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paar der Insassen ausgebüxt, undheute Morgen erschienen drei Fotos von ihnen in der Morgenzeitung. Ehemalige Soldaten. Einer von ihnen soll ein Geheimdienstoffizier und übler Folterknecht gewesen sein, ein Mörder. Mit zehn Jahren soll er die Tochter seines Englischlehrers getötet haben. Und warum? Weil der ihn hat durchfallen lassen! Behüte Gott!«
    Jussif fuhr es kalt den Rücken hinunter, als er den Fahrer so reden hörte. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er schwieg weiter und tat, als höre er den Erzählungen des Fahrers zu. Er wollte keinen Verdacht erregen, zumal der Mann ihn im Rückspiegel beobachtete.
    »Keine Sorge, Bruder«, fuhr dieser fort. »Sie brauchen keine Angst vor den Irren zu haben. Erstens zählt man sie zu den Weisen, und zweitens werde ich jetzt um Ihretwillen das Thema wechseln ... Wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, wir waren bei den Ärzten. Sie dürfen nicht vergessen, mein Sohn, die Menschen hier leiden an schweren Krankheiten. Sie können sogar von mehr als einer Krankheit zur selben Zeit befallen sein. Nehmen Sie als Beispiel meine Frau, sie kränkelte von Jugend an. Ahnen Sie, wie viele chirurgische Operationen sie über sich ergehen lassen musste? Zuerst die Galle, dann folgten der Blinddarm, die Bauchspeicheldrüse, der Dünndarm, der Dickdarm, eine Operation zur Entfernung von Nierensteinen, eine Milzoperation und so weiter und so fort. Man hat sie regelrecht ausgenommen. Aber nicht nur meine Frau, auch mein Onkel und unsere Nachbarn ließen sich ständig operieren. Gott sei Dank konnte ich drei Operationen auf einmal über mich ergehen lassen: Hämorrhoiden, Fistel und Risse. Drei auf einen Schlag, stellen Sie sich das vor!«
    Das Taxi stoppte plötzlich.
    »Das hat uns gerade noch gefehlt«, rief der Fahrer und zeigte auf eine große Menschenmenge, die die Straße blockierte.
    »Die ziehen wohl zu Imam Musa al-Kadhim«, sagte er. »Haben Sie gehört, was gestern passiert ist? Sie haben den Sajjid, den edlen Herrn, in seinem Wagen in die Luft gejagt. Eine Riesenexplosion. Bei dem Attentat kamen mehr als hundert Leute ums Leben. Eine Zeitbombe im Auto. Von dem Sajjid hat man nur noch Ring, Uhr und Turban gefunden.«
    Jussif betrachtete die Menschenmenge, die an ihnen vorüberströmte. Tausende von Männern, die weinten und Gebete hinausschrien, mit denen sie dem Toten das »Paradies« herbeiwünschten, ihm versprachen, Rache zu nehmen, oder sich für seinen Tod entschuldigten. Es waren nur Männer, die einer großen Sänfte folgten, in der anscheinend der Sarg lag. Wenn er den Worten des Fahrers glaubte, musste der Sarg leer sein und nur den Ring, den angekohlten Turban und die Uhr enthalten, auf der die Zeit in seiner Todessekunde stehen geblieben war. Jussif bemerkte erschrocken, dass sie allesamt auf dieselbe Art und Weise weinten. Dann vernahm er einen Ruf, der öfter als die anderen wiederkehrte und die allgemeine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte: »Vergib uns, vergib uns ... wir sind unfähig!« Seltsam, dachte Jussif, um Vergebung zu bitten. Im »Land der Siegreichen und der Gedemütigten« sprach sonst niemand das Wort »Vergebung« oder »Entschuldigung« aus. Doch wenn sie sich alle derart schuldig fühlten, warum änderten sie dann nicht ihre Namen und Identitäten wie er nach dem Tod des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt?
    »Haben Sie von dem Vorfall gehört, mein Herr?«, fragte der Fahrer.
    Jussif nickte zustimmend, obwohl es nicht stimmte. Weder von dieser noch von irgendeiner anderen Neuigkeit hatte er je etwas erfahren. Vor vielen Jahren hatte er beschlossen, nicht mehr Radio zu hören oder Fernsehen zu gucken. Er ließ die Geräte als bloßes Dekor im Wohnzimmer des Hauses stehen.
     
    Doch würde der Fahrer ihm sicher auch nicht glauben, wenn er ihm sagte, dass er Radio und Fernseher verschenkt hätte – an den ersten Dieb, der in sein Haus eindrang. Alle Neuigkeiten erreichten ihn verspätet. Sein Abschied von der Welt hätte ewig so weitergehen können, wenn er nicht auf einmal diese seltsamen Telefonanrufe empfangen hätte, mit dieser Stimme, die ihn warnte, dass ihm etwas zustoßen würde und er sich auf den Tod vorbereiten müsse, weil, wie die Stimme sagte, der jüngste Tag angebrochen sei und der Mörder seine Schulden begleichen müsse. Seit man ihm gesagt hatte, er sei »für den Tod der anderen« verantwortlich, hatte er nicht mehr wie gewöhnlich geschlafen und nur

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