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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Jussif bemühte sich, zumindest kleine Unterschiede in den Gesichtszügen ausfindig zu machen; vielleicht würde er wenigstens ein sich unterscheidendes Gesicht entdecken. Aber es hatte keinen Zweck. Er war sich zwar bewusst, dass die Gesichter der Menschen Verschiedenes ausdrückten, je nachdem, ob sie fröhlich oder traurig, enttäuscht oder verletzt, zornig oder ängstlich waren. Aber die draußen vorbeiziehenden Menschengesichter vereinten dies alles.
    »Wer hätte gedacht, dass die Menschen sich so schnell verändern?«, bekräftigte der Fahrer seine Worte.
    »Stellen Sie sich vor«, fuhr er nach einer Pause fort, »meine Frau ist an Krebs gestorben und hat mir vier Kinder hinterlassen. Seither bin ich auf der Suche nach einer neuen Frau, die meine Kinder mag. Meine älteste Tochter, sie ist erst zwölf Jahre alt, hat es sich nun in den Kopf gesetzt, bei der Auswahlder neuen Frau ein Wörtchen mitzureden. Ist das nicht unglaublich?«
    Als Jussif wieder nicht reagierte, fügte der Fahrer hinzu: »Wer hätte gedacht, dass in so kurzer Zeit eine ganz neue Kultur über uns hereinbrechen würde!«
    »Was hat sich verändert? Was meinen Sie?«, fragte Jussif mit einer Stimme, als sei er gerade aus einer Ohnmacht erwacht.
    »Ich meine nicht unsere Leute hier. Die sind ja allesamt so sehr unter sich geblieben, dass der Cousin seine Cousine heiratet und auf diese Weise die Einäugigen immer wieder Einäugige zeugen, selbst wenn sie Glasaugen tragen. Wir haben uns nicht verändert. Aber unsere Umgebung, die Menschen, die aus allen Winkeln der Erde bei uns zusammengeströmt sind!«, sagte der Fahrer, und als er wieder keine Antwort erhielt, sprach er weiter: »Es ist schön, Menschen so vieler Rassen zu sehen und so viele verschiedene Sprachen zu hören. Jede Sprache eine andere Kultur. Besonders das Englische, die Weltsprache, selbst wenn sie einen texanischen Akzent hat.«
    Die Sonne stand noch am Himmel, und ihre Strahlen brannten. Jussif spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn rann, und wischte ihn mit dem Hemdsärmel weg.
    »Leiden Sie an irgendetwas, mein Herr? Sie sind schweigsam, wirken geistesabwesend. Sie sind doch nicht etwa krank?«
    Jussif schreckte auf. Die Frage des Fahrers berührte ihn seltsam. Auch Sarab hatte ihm oft empfohlen, einen Arzt aufzusuchen! Wenn er jetzt wirklich krank war, dann wusste er es selber nicht. Zwar hatte er in der vergangenen Nacht nicht geschlafen, und die Müdigkeit hinterließ Spuren auf seinem Gesicht. Aber war er wirklich krank?
    »Sehe ich denn krank aus?«, fragte Jussif.
    »Hören Sie mal, Bruder. Ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Beruf. Millionen Leute haben schon in meinem Taxi gesessen. Inzwischen bin ich ein Meister darin, Menscheneinzuschätzen. Ich erkenne ruckzuck, was einem Fahrgast im Kopf herumgeht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich meine, jedem steht ins Gesicht geschrieben, was los ist. Sie sind völlig weggetreten, das ist doch klar.«
    »Wie können Sie einen Menschen von dem anderen unterscheiden?«, fragte Jussif. »Die Gesichter sehen doch alle gleich aus!«
    Der Fahrer lachte, als hätte er auf diese Frage gewartet.
    »Das ist halt so, mein Herr. Man muss weder in ferne Länder reisen noch daheim in den Untergrund abtauchen, um die Menschen gut kennen zu lernen. Das macht die Erfahrung. Sie müssen verreist gewesen sein oder sich zu Hause versteckt haben, um eine so schlechte Menschenkenntnis mitzubringen. Hätten Sie unter Menschen gelebt, hätten Sie feststellen müssen, dass zwischen ihnen und den Städten ein Zusammenhang besteht. Alles, was einer Stadt an Unglück, Traurigkeit und Zerstörung widerfahren ist, finden Sie in den Gesichtern der Menschen wieder. Lassen Sie sich durch die Schnurrbärte nicht täuschen – die sind alle geliehen!«
    Jussif schwieg weiterhin.
    »Wie auch immer. Ich fahre Sie gern zum Arzt, wenn Sie wollen. Ich kenne einen guten Spezialisten im Hafiz-al-Qadi-Viertel.«
    »Einen Spezialisten wofür?«, fragte Jussif.
    »Für Allgemeinmedizin«, erwiderte der Fahrer. »Wissen Sie, neunzig Prozent unserer Ärzte sind zum Allgemeinmediziner ausgebildet. Glauben Sie ihnen nicht, wenn sie an ihre Praxen »Facharzt für dies und das« schreiben. Sie sind alle Lügner, selbst die Ärzte aus der Schama’ijja!«
    Er hielt inne und beäugte ihn im Rückspiegel.
    »Wissen Sie, was ich mit Schama’ijja meine? Das Irrenhaus! Waren Sie schon mal dort? Möge Gott Sie davor bewahren. In den letzten Tagen sind ein

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