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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Toten ausdrückten.
    Er konnte das Zimmer nicht auf die Schnelle verlassen, als warte er darauf, dass etwas geschehe. Die Maske lag auf seiner Brust, während er sich auf dem Bett ausstreckte; er wendete sie prüfend zwischen den Händen hin und her. Auch dachte er an den Stimmenbesitzer, seinen Teilhaber, der von ihm verlangte, mit der Namensfälschung bis zur bitteren Neige fortzufahren. Der zweite Jussif. Er fragte sich, ob auch der andere jetzt irgendwo saß, in irgendeinem Zimmer, und eine der seinen ähnlichen Maske von einer Hand in die andere legte. Machte er sich Gedanken wie er? Stellte er sich Fragen wie er? War er auf der Flucht wie er? Oder war auch er nur ein Phantom ohne jeden Bezug zu sich selbst, ein Phantom, das in einer Welt der Phantome, in einem Labyrinth voller Masken und Spiegel umherirrte? Oder war er, genau wie Jussif selbst, einfach nur müde, todmüde? Was er auch tat – für einen Moment dachte er, dass es diesen anderen wirklich gab, an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Er hatte Erlebnisse wie er, hatte ein ähnliches Wissen, war aber außerstande, den gleichen Schmerz zu empfinden. Er war allein, lebte wie ein Einsiedler auf dem Erdball, ohne Nachbarn, ohne Zeugen. Widerfährt uns dieses Schicksal nicht, wenn wir denselben Film sehen, dasselbe Buch lesen, dieselbe Geschichte erzählen? Jeder trägt seinen Schmerz mit sich, jeder erzählt seine Geschichte. Auch jede Maske hat ihre Geschichte, sogar die Phantome. Ja, sogar die Phantome. Sogar die Phantome. Jussif wiederholte dieses Wort mehrmals. Er fragte sich, ob auch er nur »ein Phantom« sei. Ein Phantom. Ein Phantom.
    Alles in ihm stand still. Es war, als höre selbst das Blut in seinen Adern zu fließen auf. Es war, als käme ihm auf einmal etwas in den Sinn und er hätte Angst, es zu vergessen, oder es stürze auf ihn zu und er könne es nicht fassen.
    Jussif stand auf und steckte die Maske in die Hosentasche. Er nahm seinen Koffer und ging langsam, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter und trat auf die Tante zu, die eingeschlafen war. Er holte etwas Kleingeld hervor und legte es für sie auf das Tischchen. Dann verließ er leise und vorsichtig das Haus.

Fünftes Kapitel
    Ein Besuch bei Josef Karmali oder Josef K.:
    Gespräch über Bombenexplosionen und Volkskrankheiten,
    über die Fälschung von Ausweisen, über Dichter und Mord
     
    Nachdem Jussif wieder auf der Straße stand, begann er, die Gesichter der Menschen sorgfältig zu betrachten. Verbargen sie sich alle hinter Masken?
    Mit einem Taxi fuhr er zur Raschid-Straße. Er erinnerte sich, wie sein Bruder sich fünfmal am Tag zum Gebet auf die Knie warf. Als er ihn fragte, warum gerade er das mache, der doch gar nicht glaube und auch keine Ahnung von den zum Gebet gehörenden Suren habe, antwortete dieser: »Das ist eine Art Vertuschung. Du wirst das Geheimnis eines Tages schon von selbst entschlüsseln. Der Schwache und der Starke haben Anlass, sich hinter einer Maske zu verstecken.«
    In seine Gedanken vertieft, hörte Jussif plötzlich die Stimme des Fahrers. »Sie haben sich lange im Haus aufgehalten, mein Herr. Ich habe mehr als zwei Stunden auf Sie gewartet!«
    »Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie warten sollen?«, fragte Jussif erstaunt.
    »Ihre Freunde«, antwortete der Fahrer.
    Er wies mit der Hand auf das Auto hinter ihnen. »Ihre Freunde haben ein anderes Taxi genommen, weil Sie lieber allein fahren sollten.«
    Jussif warf einen ängstlichen Blick nach hinten, um sich zu überzeugen, dass ihnen wirklich ein Auto folgte. Er erkannteeine ihm zuwinkende Hand, doch das dazugehörende Gesicht konnte er nicht ausmachen. War es vielleicht doch nur eine Halluzination?
    »Seltsam, wie die Menschen sich verändern!«, hörte er den Fahrer sagen.
    »Was meinen Sie?«, fragte Jussif, »wer hat sich verändert?«
    »Die Menschen«, erwiderte der Fahrer. »Alle. Schauen Sie nur genau hin!«
    Jussif dachte über die Worte des Fahrers nach. Die Menschen, die er auf der Straße sah, sahen aus wie immer. Schwarze Haare, dichte Schnurrbärte, längliche Vollbärte. Die Runzeln in ihren Gesichtern deuteten auf ihr vorzeitiges Altern hin. Ihr Alter zu schätzen war schwierig. Es war, als hätte das gesamte Land gleichzeitig ein bestimmtes Alter erreicht. Sie trugen ähnliche Kleider, einer wie der andere. Selbst einige Schnurrbartträger erweckten den Eindruck, sie fürchteten sich davor, ein besonderes Kennzeichen aufzuweisen, und setzten alles daran, in der Menge unterzutauchen.

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