Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
Vom Netzwerk:
kennen lernte, der ihm beichtete, dass er seine Namen wechselte wie die Hemden. Es war nicht schwer, sich mit einem kleinen Bestechungsgeld gefälschte Papiere zu beschaffen. Sarab musste sich jahrelang zwingen, dieses Benehmen, die wirklichen und die erfundenen Geschichten zu verstehen. Aber sie ahnte, dass die Zeit käme, da sie sagen würde: »Genug! Ich kann es nicht länger ertragen.« Woher sollte sie wissen, dass Jussif schon eine andere Richtung eingeschlagen hatte, seit er zerrüttet und besiegt der Internierungshaft entronnen war? Dort hatte er angefangen, wirres Zeug über das kleine Mädchen zu faseln, das neben der alten Frau vor dem Tor des Verteidigungsministeriums gehockt hatte. Es war gewiss dasselbe kleine Mädchen, von dem er geglaubt hatte, sie sei gestorben, als sie klein war: das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. So fand Sarab eines Morgens nach dem Aufstehen einen Zettel, auf den Jussif mit krummen Lettern geschrieben hatte: Ich habe mich auf die Suche nach dem kleinen Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt gemacht.
    So zog Jussif von einer Stadt in die andere, wechselte eine Arbeitsstelle nach der anderen und hatte sich zwei Namen zugelegt: einen offiziellen für die Arbeit und einen, unter dem er sich in dem Hotel einschrieb, in dem er schlafen wollte. Dies war auch die Zeit, in der er eine Tätigkeit nach der anderen aufnahm und von einem Büro zum nächsten zog. Er duldete keine Nähe, wollte um jeden Preis allein bleiben. Er wollte überleben, eine dichte Maske tragen: Das war seine Entscheidung. Jahrelang lebte er so, bis er sich nicht mehr erinnerte, welchen Posten er innegehabt, in welchen Büros er gesessen hatte. Nur eines war ihm nicht entfallen, nämlich dass er jede neue Beschäftigung in einem leeren Büro antrat, weil sein Vorgängeroder Kollege gerade hingerichtet oder verhaftet, verschwunden oder getötet worden war, sei es im Krieg oder im Gefängnis, im Ehebett oder in einer dunklen Straße, durch Messerstiche oder durch Todesschüsse, deren Kosten die Eltern tragen mussten, weil ihnen sonst das gleiche Schicksal drohte. Er fragte sich nie, wohin die anderen verschwanden, und er dachte nie darüber nach, warum die Machthaber oder die herrschende Partei so handelten. Wo warben sie nur all diese Mörder an, die zumeist von ähnlicher Herkunft waren: Soldaten, Spitzel, Zuhälter und Huren? Woher kamen diese Spießgesellen, die sich durch das Land fraßen wie die Pest und es mit brutaler Gewalt zerschlugen? Woher wehte das Senfgas, der ganze giftige Kehricht, den sie in den Arsenalen der republikanischen Garden aufbewahrten? Er fragte sich nicht einmal, wann seine Stunde schlagen würde. In seiner Arbeitszeit sprach er nur wenig. Oft reichte es, mit dem Kopf zu nicken und wortlos zu tun, was man von ihm verlangte. Oder er sagte ›ja‹, wenn er ›nein‹, und ›nein‹, wenn er ›ja‹ sagen wollte. Sie machten mit ihm, was sie wollten. Eines Tages erschienen sie in Ärztekitteln und behaupteten, seine Nerven seien krank. Er war ein bloßes Gefäß, sonst nichts.
    Hinter dem Gebäude von Arosdibbek bog er ab und legte noch ein paar Schritte zurück, ehe er auf einem kleinen geschlossenen Platz stehen blieb, um genau zu überdenken, wo sich der Laden befand, den er aufsuchen wollte. Er musste nicht lange suchen. Den Hauptteil des kleinen Platzes nahm ein großes Café ein, dessen Rückfront der Tigris begrenzte. Daneben lagen einige schmale Läden und die Werkstatt von Josef Karmali, der sich Josef K. nannte.
    Der Laden hatte sich nicht verändert, wie Jussif bemerkte. Es war, als sei die Zeit hier stehen geblieben, als hätte er den Laden erst gestern verlassen. Josef Karmali war ein Buchbinder, der alte Bücher mit kunstvollen Einbänden ausstattete.
     
    Außerdem war er auf Holzrahmen spezialisiert. Josef Karmali war nämlich ursprünglich ein Fachmann für die Gravur von Holz mit chinesischer Tinte . Er arbeitete auch für die Nationalbibliothek, die damals begann, alte Bücher neu binden zu lassen. Er hatte auch gute Beziehungen zu Arabern, die ihn mit ihren Büchern aufsuchten oder sie ihm schickten. Doch der Verdienst für diese Arbeit ließ sich nicht mit dem Verdienst für die Rahmung der Bilder des damaligen Präsidenten und seines Vize vergleichen. Und als der Vize Chef wurde, hatte er besonders viel zu tun, weil alle Bilder ausgewechselt werden mussten. In der Zeit der Flaute

Weitere Kostenlose Bücher