Jussifs Gesichter
könnte behaupten, er hätte in diesen Jahren gar nicht gelebt, wäre ohne Leben gewesen. Fünfunddreißig Jahre vielleicht oder doch weniger? Vielleicht nur zwanzig Jahre? Auf jeden Fall konnte man in den letzten Jahren – bis zum gestrigen Tag – von seinem fünfzigfachen Tod ausgehen. Er wollte selbst nicht glauben, dass er jetzt zur Erdoberfläche hinaufstieg. Er sollte vielmehr, wie dieser »Sajjid«, seit langer Zeit unter der Erde in einem einsamen Grab liegen. Wie konnte es geschehen, dass er überlebt hatte? Aber war er wirklich am Leben? Einmal fanden sie inseinem Büro eine englische Zeitschrift in einer Schreibtischschublade und schickten ihn an die Front, damit er sie überzeuge, dass seine Loyalität gegenüber der Regierung ernst gemeint war. Ein andermal warfen sie ihn ins Gefängnis, weil er einen ausländischen Roman gelesen hatte: »Der kleine Prinz«. Und noch mal und noch mal ... Der Tod umzingelte sein Leben mit gewöhnlichen, alltäglichen Stricken, die niemand für wirklich gefährlich hielt.
Wann hatte es angefangen? Mit den Jahren der Lüge und des Geschichtenerzählens, die er einzig von seinem großen Bruder erlernt hatte? Wann begann seine Selbstzerstörung? Als er ein junger Mann war?
Einst hätte Jussif seinen alten Namen und die mit ihm verbundenen Anschuldigungen beinahe vergessen. Es war, als hätte er sich damit abgefunden, dass sein Bruder das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt getötet hatte. Seit er sich Namen und Identität seines Freundes, des schon früh aus dem Land geflüchteten Schriftstellers Harun Wali zu eigen gemacht hatte, war er in eine Person geschlüpft, die auf eine andere Weise leben wollte. Dieser junge Mann träumte davon, sich nach dem Studium eine Arbeit zu suchen oder im Ausland weiterzustudieren, als der Krieg ausbrach. Irgendwann nach Ende des Krieges – er wusste nicht mehr genau, wann – begannen sich die Ereignisse gegen seine Idealvorstellung zu entwickeln. Er wusste nicht mehr, wann die Nächte der Saufgelage und des Flüchtens anfingen. War es in den ersten Kriegsjahren, kurz nach seiner Heirat mit Sarab, als er anstelle des Militärdienstes mit gefälschten Papieren das Weite suchte? Wann begann die Zeit der Krankheit, der Nervenzusammenbrüche, die Zeit der Angst und die Zeit der Flucht? Wann wollte er nicht nach Hause zurückkehren? Wann lebte er dasLeben seines Bruders? Die Zeiten wirbelten in seinem Kopf durcheinander.
Jetzt, da er sich nach all den Jahren, nach all den Ereignissen nach dem Anfang fragte, musste er sich eingestehen, dass er unfähig war, eine Antwort zu finden. Er wusste nicht, wann und wo seine Misere begonnen hatte, solange seine Gefährten sich nur in seinem Geist bewegten – seinem Geist, den die Ärzte seit vielen Jahren als »zu schwach« abstempelten. Dennoch würde sein Freund, der Schriftsteller »Harun Wali« behaupten: »Was zählt, sind die uns umgebenden Ereignisse, nicht diejenigen, die uns mit den Fragen nach dem Wann und Wo Kopfschmerzen bereiten: in Bagdad oder in Basra oder in einer anderen Stadt?« Wenn die Worte seines Freundes etwas galten, dann müsste er diesen Ort verlassen und sich auf das konzentrieren, was geschehen war. Jussif hatte nie eine Gefahr für das Leben der anderen dargestellt, wie der Stimmenbesitzer behauptete! Eine Ausnahme war nur die alte Geschichte, die Geschichte des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, und allem, was mit ihr zusammenhing. Es war jugendlicher Leichtsinn gewesen, gegen die Welt zu rebellieren. Einerseits. Andererseits war da die Suche nach den Bars der Unterwelt, die Spaziergänge zum Maidan-Platz und in den Bezirk 52. Dort verschleuderte er im Handumdrehen – in einer, höchstens in zwei Wochen – sein Monatsgehalt. Es gab nur diese ihn immer mehr beherrschende Unfähigkeit, dieses unruhige, drängende Gefühl, ein anderer zu sein, ein Mensch, der anders war als die anderen Menschen. Er log und log. Er behauptete sogar, in die herrschende Partei eingetreten zu sein und eine Menge böser Worte, Beleidigungen und Vorwürfe ertragen zu haben. Ihm war, als hätte er sich freiwillig einer stärkeren Macht unterworfen, die ihn wie eine Marionette hin und her hüpfen ließ. Die Lebensart, die ihm vorschwebte – die er zumindest für richtighielt –, ließ sich nur in der Einsamkeit verwirklichen. Das war nicht schwer, nicht einmal bevor er Josef Karmali oder Josef K.
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