Jussifs Gesichter
ihr lang währendes Lächeln, ihre überraschende Sprechweise, ihre aufrechte Haltung, ihr selbstbewusstes Auftreten, die Art, wie sie das Tablett trug, ihr Gang – ihn nicht nur glauben ließ, sie wirklich zu kennen, sondern ihn zwang, sich an eine einzige Frau zu erinnern: Sarab. Ja, sie war wie Sarab. Sie sprach wie sie. Sie zog auf einmal die Schultern hoch und ließ sie ruckartig wieder fallen. Wie Sarab konnte sie nicht still sitzen, sondern war sogar beim Teetrinken ständig in Unruhe, bewegte sich hin und her. Selbst ihre Hände fuhren dahin und dorthin. Mal faltete sie sie auf der Brust, mal fuchtelte sie mit ihnen in der Luft herum. Auch wenn sie ihr Reden unterbrach, schaute sie ihn mit einer Mischung aus Liebe und Bedauern an, mit fast ernstem Blick, der dennoch das Lächeln nicht ganz von ihrem Gesicht vertreiben konnte.
»Es ist ein Tag wie jeder andere. Er ist erfüllt von der Jagd nach der Frau aus dem Kinofilm. Oder hast du aufgehört, mir nachzustellen?«
Diese Frage richtete sie an ihn, als wäre sie schon seit vielen Jahren mit ihm bekannt und sei jetzt enttäuscht von ihm. In derErwartung, er möge sich äußern, ließ sie ihre Augen aufmerksam über sein Gesicht gleiten. Sie wollte sich keinesfalls geschlagen geben, sondern sein Schweigen brechen, seinen Mund öffnen, ihn zum Sprechen bringen.
Sie ist wie Sarab, sagte Jussif zu sich. Sie ahnt nicht, dass ich sie liebe. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ich ein Teil von ihr bin, dass die Zeit der Ränkespiele und Geschichten seit Jahren vorbei ist.
Vielleicht sollte er ihr auch einreden, dass die merkwürdige Geschichte mehr mit ihm selbst als mit ihr zu tun hatte. Er begegnete Sarab überall: im Sprechzimmer beim Arzt, im Krankenhaus, im Gefängnis, zu Hause, auf der Straße, am Arbeitsplatz, beim Spazierengehen, an der Omnibushaltestelle, im Bus, im Traum, im Wachzustand. Wohin auch immer er seinen Blick richtete, er würde ihre Züge in allen Erscheinungen der Welt finden: in den ihn umgebenden alten Möbeln, auf dem Schild der Buchhandlung, auf Mauern und Parkbänken, in den über den Himmel ziehenden Wolken, in den Kleidern der Mädchen, in den Gesichtern seiner Kollegen und Freunde, in den Gesichtern von Fremden und Verwandten, von Schurken und Liebenden. Wohin auch immer sein Blick fiel, er würde sie vor sich oder neben sich sehen, wie sie gemeinsam die Dinge betrachteten: das Pflaster, die Lampen, den Ventilator, die Elektrogeräte, die Bücher auf dem Bord, die Fensterscheibe, die Stifte auf dem Tisch, Möbel, Folianten, Läden und Geschäfte, die Teller, den Tisch, den im Saft zergehenden Eiswürfel oder die aufgeschlagen auf dem Sofa oder dem Tisch zurückgelassene Lektüre und den Kassettenrekorder, der alle Erzählungen über seine erfundenen oder tatsächlichen täglichen Streifzüge aufnahm. Oder er würde den Schatten einer Frau betrachten, die wie ein Schmetterling mit dem Morgenlicht spielte oder vorbeihuschte wie Sarab. Sie war sein ganzes Sehen: gesund und munter oder krank, gefangen oder frei, tot oder lebendig.
»Bist du mir gefolgt, weil du glaubtest, ich wäre sie ?«
Diese Frage stellte sie mit freundlicher Stimme, als spräche sie mit einem Kranken. Das Lächeln, das um ihre Mundwinkel spielte, verlieh ihren Worten Schönheit und Sanftmut. Er hatte den Verdacht, sie wolle durchaus nicht sie selber sein, als weise sie eine alte Reue von sich, die im Lauf der Jahre immer weiter gewachsen war: die Reue, dass er durch und durch von ihr besessen war.
»Bist du froh, wenn du diese Frau siehst?«
Bevor er etwas erwidern konnte, redete die Frau rasch weiter, als fürchte sie, er könne ihre Frage verneinen:
»Du musst nicht antworten. Ich kenne dich gut, und ich kenne deine Antwort. Du wirst sagen, du seist ein treuer Ehemann. Du liebst deine Frau, hast aus Liebe geheiratet. Und ich glaube dir jedes Wort. Ich weiß, wie sehr du eine gute Ehe führen willst. Du bist nicht wie die anderen Ehemänner. Du gehst nicht aus, schlägst dir nicht mit deinen Kumpeln die Nächte um die Ohren, kommst nicht betrunken nach Haus. Mir ist klar, dass du der Ehemann sein wolltest, zu dem du geworden bist. Du rauchst nicht, trinkst keinen Alkohol, verbringst deine Zeit beim Lesen oder beim Hören von Musik auf ausländischen Sendern. Mir sind all deine Vorzüge bekannt, die gewiss mehr als eine Frau aufseufzen ließen: ›Ach, wie glücklich ist seine Frau. So ein vorbildlicher Ehemann!‹ Du weißt sehr gut, wie das ist – es ist
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