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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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aber abrupt zurück. Sie ging auf Zehenspitzen, als fürchte sie, jemanden zu wecken.
    »Setzen wir uns in den Salon, bevor Junis kommt.«
    Er wollte wissen, von welchem Junis sie sprach. Aber er zog es vor zu schweigen.
    »Du ziehst also immer noch mit diesem Koffer umher!«, fügte sie hinzu. »Stell ihn auf den Boden im Flur!«
    Er ließ den Koffer aus der Hand gleiten. Dann betrachtete er verstohlen die Frau. Sie war elegant, trug ein schickes, sauberes und gebügeltes Kostüm, als wolle sie auf eine Party oder zu einem Empfang gehen. Ihre ganze Erscheinung, sogar ihre Schuhe – Lederschuhe mit hohen Absätzen – deuteten darauf hin, dass sie keinen Mangel zu leiden hatte. Schuhe sind immer ein Zeichen für die gesellschaftliche Stellung eines Menschen, dachte Jussif.
    Als sie sich niederließen, erschienen ihm jetzt auch die Saloneinrichtung und die türkisfarbenen Wände vertraut. Alles entsprach dem Salon seines eigenen Hauses.
    »Hat dir der heutige Film gefallen?«
    Jussif antwortete nicht, sondern schwieg weiter.
    »Aber warum frage ich? Ich kenne ja die Antwort! Du wirst mir von einem anderen Film erzählen, nicht von dem Film, den du auf der Leinwand gesehen hast.«
    Woher weiß sie das, überlegte Jussif. Die Frau redete, als wisse sie alles über ihn.
    »Als du mir das letzte Mal gefolgt bist, warst du auch nicht bereit, über deine Erlebnisse zu sprechen. Dir war es peinlich zuzugeben, dass du wie gewöhnlich durch die Stadt gestreift bist. Wie sehr ich dich doch manchmal beneide! Ich beneide dich um das Bild, das du von der Stadt hast. In deinem Geist bleibt sie immer dieselbe, als würde sie sich nie verändern. In deinem Kopf bleibt alles an dem Platz, wo du es einst zurückgelassenhast. Es ist, als wolltest du dich an dieser abscheulichen Stadt auf deine Weise rächen ... Oh, wie hasse ich diese Hurenstadt!«
    Dann redete sie weiter, diesmal lauter und mit einem traurigen Tonfall: »Du streifst durch die Stadt, doch der Zustand, in den sie geraten ist, bedeutet dir nichts. Es ist, als sagtest du nicht nur zu den Plätzen, sondern auch zu den Menschen: ›Ihr seid tot, ich allein bin noch am Leben!‹ Die Menschen sterben, wie auch die Stadt stirbt, wie die gesamte Menschheit stirbt, wie Reiche vergehen und Kontinente versinken werden. Alles wird ausgelöscht, nur deine Vorstellungskraft bildet sich von neuem. Das ist das Entscheidende! Deine ungeheure Vorstellungskraft allein lebt, als drehe die Erde sich fort und fort um die Sonne. Was bedeutet das für dich? Gleich, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder umgekehrt – Menschen und Städte werden zugrunde gerichtet in diesem elenden Land, im Land der Siegreichen und der Gedemütigten gleichermaßen! Einerlei ob diese Stadt in diesem Zustand verharrt oder es zulässt, sich in ein hässliches Gesicht zu verwandeln und Träume, Häuser, Lichter, Türme und Tore mit sich zu reißen! Nur deine Träume fluten über den Weg, wie ewiges Licht, ohne die Spur eines Schattens. In deinen Träumen, die dich durch Straßen und über Brücken führen, wiederholst du immer wieder deinen beleidigenden Spott! Erlaube mir, dir zu sagen, was so verletzend ist: Ich offenbare dir die Wahrheit!«
    Als sie die letzten Worte gesprochen hatte, leuchteten ihre Augen plötzlich auf. Sie zog ihre Schuhe aus und streifte Sandalen über. Lächelnd nahm sie seine Hände in die ihren und ließ sie dann wieder los. Sie wolle Teewasser aufsetzen, gleich würde sie zurück sein. Er vernahm ihre vorsichtigen Schritte auf dem Boden.
    Auch die Farbe der Mosaike und der aufgemalten Vierecke waren die gleichen wie bei ihm daheim. Ja selbst die Entfernung,aus der die Stimme der Frau zu ihm kam, schien dem Abstand zwischen Salon und Küche in seinem Haus zu gleichen. Als er die Hand auf den Tisch legte, merkte er, dass der runde Tisch dem Tisch seines Salons nachgebildet war. Ein Kassettenrekorder stand darauf; daneben türmten sich ein paar Kassetten. Alle Möbel entsprachen aufs Haar der Einrichtung im heimischen Salon. Nur die Vorhänge waren geschlossen. Er wusste nicht, ob sie sie zugezogen hatte. Wenn sie sich zu Hause im Salon niedersetzten, ließen sie sie stets offen, damit der Blick ungehindert durch das Fenster auf den Garten und den sich hinter der Hecke ausdehnenden Park fallen konnte. »Jetzt wird die Sache ernst«, dachte er. Sie war eine Frau, die er von früher her zu kennen meinte.
    Als sie mit einem Tablett wieder den Salon betrat, dachte er, dass alles an ihr –

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