Jussifs Gesichter
Spielzeug begraben wurden. Er sah Minenfelder, verscharrte Tiere, scheuende Pferde. Er sah vergewaltigte Frauen, die zu fliehen versuchten, aber erdrosselt wurden. Er sah seine Mutter, die schrie und klagte und ihm mit einem weißen Taschentuch zuwinkte. Er sah ausgelöschteStädte und Reiche, die über ihren Bewohnern einstürzten. Er sah eine nackte Mariam, die wie eine müde Löwin dahockte und die Körper ihrer vier Töchter an sich drückte. Er sah Rifqa, Rahma, Schafaqa und Ra’fa, die Zöpfe zu Pferdeschwänzen gebunden. Er sah ihre Opfer quälende Folterknechte und Opfer, die um Gnade flehten: »Rifqa – Milde, Rahma – Erbarmen, Schafaqa – Gnade, Ra’fa – Mitleid!« Er sah Schülerinnen, die mit ihren Liebsten turtelten und wenige Tage später sterben würden, und musste weinen. Er sah Engel und Teufel gemeinsam gehen. Er sah Gott und Satan. Er sah Masken und Spiegel. Wieder sah er seinen Bruder – mit mehr als einer Maske. Er sah Josef Karmali oder Josef K., der ihm fieberglühend zurief: »Ich bin Harun Wali, der die Geschichten der Zerstörung erzählt. Ich erzähle von meinem Ort aus – weit weg von euch, aber dennoch so nahe an euch, viel näher, als ihr euch vorstellen könnt.« Er sah im Schaufenster einen ihm ähnlichen Mann, der das Haus seit Jahren nicht verlassen hatte. Er saß im Salon an einem Tisch mit einem Kassetterekorder, auf den er die Einzelheiten seiner täglichen Spaziergänge sprach, wie er sie zu unternehmen sich vorstellte. Durch das Fenster, aus dem der Mann hinausstarrte, sah er elf Sterne, die Sonne und den Mond. Und er sah sich selbst mit zerrissener Maske aus einem finsteren Brunnen hervorkommen. Dann sah er auf einmal das Gesicht einer Frau, das er zu kennen meinte. Jedes Mal blieb er stehen und betrachtete sich im Schaufenster eines anderen Ladens – des Saftverkäufers, des Juweliers, des Uhrmachers, des Schuhverkäufers, des Antiquitätenhändlers, des Schneiders, des Buchhändlers. Da entdeckte er das Gesicht der Frau hinter ihm. Es drehte sich mit ihm, wohin auch immer er sich wandte, ging mit ihm durch die Straße, begab sich auf die Brücke und überquerte sie mit ihm bis zur anderen Seite des Flusses, zerrte an ihm und warf sich mit ihm ins Getümmel von Gassen und Straßen. Er fragte sich, woher ihm dieses Gesicht vertraut war.
Hatte er es gerade erst im Kino gesehen? Als er den Kopf wandte, um sich zu vergewissern, ob es sich um dieselbe Frau handelte, sah er sie nicht mehr wirklich. War es wieder nur eine seiner Wahnvorstellungen, eine Variation auf das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, das er seit der Kindheit mit sich herumtrug? Doch das Gesicht zog sich vor ihm zurück, und er sah nur noch einen sich auflösenden Schatten, der ihm ein paar Meter vorauseilte. Es war, als wolle er ihn antreiben, schneller zu gehen, zu ihm aufzuschließen und zuzupacken.
Siebtes Kapitel
Über das Glück, den Tisch mit der Frau des Lebens zu teilen:
mit einer Schachtel Zigaretten, einem Glas eisgekühltem Bier
und ein wenig Erotik
»Warum folgst du mir die ganze Zeit?«
Die Frage kam vom Innenhof des Hauses, hinter dem Vorhang hervor, der den Eingang zum Haus von der Außentür trennte. Die Außentür stand halb offen und Jussif drückte sie vor dem Eintreten vorsichtig weiter auf. Aus Angst, ihm könne etwas Unerwartetes zustoßen, zögerte er. Er war sich bewusst, dass seine Füße die Schwelle zum Haus eines Fremden überschreiten würden. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und wagte den entscheidenden Schritt. Er zog den Vorhang zum Korridor zur Seite – selbstbewusst stand dort die Frau, als hätte sie sein Kommen erwartet. Sobald er merkte, dass sie sich ihm zuwandte und ihn mit fragendem Blick musterte, wollte er ihr sagen, dass es sich um eine Verwechslung handle. Er würde wieder gehen, weil er sich geirrt habe. Dass sie ihm verzeihen und Nachsicht für sein Verhalten haben möge, weil er krank sei. Vielleicht habe sie schon erkannt, dass seine gesamte Erscheinung, vom kahl rasierten Schädel bis zur Blässe seines Gesichts, darauf hindeutete, wie sehr seine Gesundheit zu wünschen übrig ließe. Seit drei Nächten habe er nicht geschlafen. Und auch das Ruhen auf dem Bett in den Nächten davor könne man nicht als Schlaf bezeichnen. Anstelle einer verständnisvollen Bemerkung wiederholte sie ihre Frage: »Warum bist du mir wieder gefolgt?«
Sie kam näher und berührte seine Hand, wich dann
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