Jussifs Gesichter
eine menschliche Schwäche: Wenn die Leute dich auf der Straße treffen, dich grüßen und nach deinem Befinden fragen, dann spitzen sie die Ohren, weil sie neugierig sind auf schlechte Nachrichten, weil sie Mitleid vortäuschen können, weil sie zeigen können, wie gut sie sind, wie bereitwillig sie helfen. Sie ahnen nicht, wie sehr dir bewusst ist, dass sie nur aus Neid so handeln, um dir trotz allem sagen zu können, sie seien besser als du. Aber wenn sie dich erwidern hören, dir gehe es gut und du hättest keinen Grund zur Klage, schütteln sie die Köpfe undantworten: Wir beneiden Sie. Und am Ende ist niemand überzeugt von deinem Zustand und von der Person, die du bist. Wir alle wollen jemand anderes sein. Im Glück wie im Leid.«
Sie schwieg und erhob sich langsam von ihrem Platz. Sie stand ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, und sah ernst aus. Sie fuhr sich mit der rechten Hand durch die langen, schwarzen Haare und packte fest zu, als wolle sie sie ausreißen. Er sah, wie sie ihre Rechte nach dem Kassettenrekorder auf dem Tisch ausstreckte und auf den Aus-Knopf drückte.
»Du musst mit diesen Schmerzensaufnahmen aufhören«, sagte sie und ging in die Küche. Er hörte von dort ihre Stimme klar, aber mit Unterbrechungen. Während sie mit ihm redete, lief das Wasser leise, aber nicht gleichmäßig aus dem Hahn, als ob sie das Abendessen zubereitete oder vorsichtig Geschirr spülte. Sie wollte ihre eigene Stimme durch das Fließgeräusch nicht übertönen, während sie redete und redete. Es war, als berichte sie von Dingen, über die sie beide Bescheid wussten, so wie zwei Ehepartner sich miteinander unterhalten, wenn sie sich nach einer langen Reise wiedersehen, oder ein Freund den anderen, ein Verwandter den anderen im Krankenhaus besucht. In allem, was sie vorbrachte, bewahrte ihre Stimme Ruhe und Wärme. Er richtete sich in seinem Sessel auf und begann ihr zu lauschen, wie ein Kind, das der Mutter lauscht.
»Ich habe meinen Namen gehasst, obwohl er so selten ist. In jeder Nacht, wenn ich im Bett lag, gab ich mich der Vorstellung hin, ganz allein Sarab zu heißen. Ich musste an die Engel denken, von denen meine Großmutter manchmal erzählte. Sie sprach von neunzehntausend Engeln ohne Namen. Sie sind ja nur Engel, die die Kinder behüten, die Alten umsorgen und Gutes tun. Sie wollen von niemandem mit einem Namen gerufen werden. Meine erste Puppe ließ ich ohne Namen. Ich besaß wohl etwa zwanzig Puppen; mein Vater brachte mir immer eine neue mit, wenn er von einer seiner langen Reisen heimkehrte.
Nur eine einzige Puppe trug einen Namen. Sie hatte lange Arme und dünne Beine. Meine Großmutter machte ihr Haare aus Wollresten, die beim Spinnen abfielen. Sie hieß ›zweite Wunde‹. Ich glaube, meine Großmutter hat sie so genannt. Als wir einmal an einem Winterabend um das Kohlebecken hockten und sie Wolle spann, fragte ich sie, warum sie nur dieser einen Puppe einen Namen gegeben habe. Da erwiderte sie, nur diese habe Haare und einen kleinen Schlitz in der Nähe des Herzens, als sei sie wie ich am Herzen verwundet. Sie war also unsere zweite Wunde. Und ich sagte: ›Obwohl ich keinen Schlitz in der Nähe des Herzens hatte, zumindest damals nicht, hatte ich doch Haare.‹ Darauf sagte meine Großmutter lachend: ›Hältst du mich etwa für eine Glatthaarige?‹ Wenn ich meine Großmutter nicht so lieb gehabt hätte, hätte ich wohl auch diesen Namen gehasst. Ich habe ihn aber gemocht, weil auch sie ihn verwendete. Er gefiel mir, weil ich spürte, dass auch in mir ein anderes Mädchen war. Ich gewöhnte mich an ihn – so wie man sich an den Geruch von Möbeln oder einem alten Haus gewöhnt. Und wenn ich älter bin, dachte ich, werde ich das Meldeamt aufsuchen und eine Namensänderung beantragen. Aber ich unternahm diesen Schritt nicht, weder als Kind noch als Erwachsene, als mir bewusst wurde, dass ich denselben Namen trug wie das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt.«
Jussif hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit er sich in den Salon gesetzt und begonnen hatte, ihr zu lauschen. Vielleicht war er sogar einmal eingenickt, zumindest fühlte er sich benommen. Auf einmal vernahm er ihre Stimme nicht mehr.
Er spürte, wie sein Oberkörper auf dem Stuhl nach vorn sackte und eine Hand – die Hand einer ihm bekannten Frau – seine Schulter berührte und schließlich auf seiner Stirn lag. Wie schön diese Hand doch war, sagte er
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