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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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wirkliche Sarab, eine wirkliche Fata Morgana zu verwandeln. Weißt du noch, Liebste? Dort, unter dem hohen Lotusbaum, dem Baum, dessen Alter unsere Großeltern auf dreitausend Jahre schätzten, dem Baum, der seine Jugend nicht aufgeben will, dort, in den weiten Feldern, die sich hinter der nahen Mühle ausdehnen, hinter der Schule, wo der alte Müller sein Haus hat, wo wir aus Langeweile und Verdruss vor dem Lernen Zuflucht nahmen, dort werden wir jetzt hingehen und wie die Schmetterlinge mit dem Morgenlicht spielen. Ich spüre noch diesen Kuss auf der Wange, habe noch die Worte im Ohr, die schönsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe, die sich mir eingeprägt haben ... Erinnerst du dich der sich nähernden Lippen, der sich nähernden Augen: Liebster, Liebster, Liebster ... Lausche mit mir, wie unsere Herzen im Gleichklang der Worte pochen. Sieh, wie die Herbstvögel im Gleichklang ihrer Stimmen munter auffliegen und sich vorstellen, der Frühling sei nah. Schau mich an, wie wir mit ihnen fliegen, wie auch wir vom kommenden Frühling träumen, vom nicht verlorenen Paradies, von namenlosen Kindern und Engeln. Nein, selbst als Phantom wärest du doch gegenwärtig. Du brauchst dich nur umzudrehen, um die Wahrheit zu erkennen. Liebste, dreh dich um. Bitte, dreh dich einfach um.«
    Aber sie drehte sich nicht um, sondern verharrte in ihrer Haltung, während er ein geheimes Zwiegespräch mit sichführte. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah aus dem Fenster in die Ferne, als sei auch sie versunken in einen inneren Monolog. Von seinem Platz aus konnte er das Licht der untergehenden Sonne sehen, das den unter dem Fenster liegenden Garten überflutete. Er konnte sich vorstellen, wie ihre Augen weiter und weiter in die Ferne drangen.
    »Weißt du noch?«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, diesmal mit noch sanfterer, ernsterer Stimme, als flüstere sie sich selbst etwas zu, nicht ihm, der am Tisch saß.
    »Wann immer ich aus diesem Fenster blicke, in den ersten Morgenstunden oder am Abend im Schein der versinkenden Sonne, muss ich an die Geschichte denken, die du mir so oft erzählt hast: die Geschichte von dem kleinen Mädchen, der Schülerin aus der fünften Klasse, die Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, dem schlanken, zarten Mädchen, das meinen Namen trug, dem ihr kleiner Freund einen von seiner Mutter gebackenen Kuchen schenken wollte. Er wusste nicht, dass er ihr den falschen Kuchen reichte, den Todeskuchen, den sein Bruder – wie er behauptete – an den Nachbarshund verfüttern wollte. Ich stelle mir vor, wie das Mädchen hier mit mir sitzt. Es ist egal, ob die Geschichte erfunden oder wahr ist, egal, ob du sie einmal in einem Buch oder in einer Zeitschrift gelesen hast oder sie dir wirklich widerfahren ist. Du warst der Knabe, der sich in das kleine Mädchen verliebte und sich seinen Bruder Junis zum Feind machte, seit sie mit ihrem Vater, dem Lehrer, als einziges Mädchen in eure Klasse gekommen war. Weißt du noch? Wundere dich nicht über meine Worte. Seit du mir die Geschichte erzählt hast, ist sie hier, unter uns, zur Gegenwart geworden. Seit du mir zum ersten Mal davon berichtet hast, bei unserem ersten Kennenlernen, ist sie der Vergangenheit entrissen worden. Du warst an jenem Tag nicht allein, sondern hast das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blondenZöpfen und dem blauen T-Shirt mitgebracht, um sie zu dem Zwilling meiner selbst zu machen. In all diesen Jahren hattest du Angst, mich zu verlieren, weil du nicht auch sie verlieren wolltest, wenn ich dir verloren ginge. Du hattest Angst, einen Augenblick zerstreut zu sein und wandtest dich manchmal erschrocken um, als würde sie dir entwischen oder als würdest du ihr erneut den Todeskuchen reichen. Und du riefst: Oh Gott, wie konnte ich mich in dem Kuchen irren, wie konnte ich die beiden Kuchen verwechseln?
    In all diesen Jahren warst du vor der Welt auf der Flucht. Du hast immer wieder versucht, dich abzuschotten, hast Haustüren verriegelt, in der Einsamkeit Zuflucht gesucht. Du wolltest nicht, dass jemand deine aus Erinnerungen und Luftschlössern errichtete Welt beschmutzt. Du wolltest das erste Bild in dir bewahren. Du wolltest nicht, dass Zerstörungen, Verwüstungen, Kriege und Morde mit dir zusammenhingen. Du wolltest, dass alles an seinem Ort, seinem Platz bliebe, als fürchtetest du, die Ursache eines weiteren Mordes zu sein. In all dieser Zeit ist

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