Jussifs Gesichter
lief, oder der Frau neben dem Kassettenrekorder, der gerade alle von ihm gesprochenen Wörter aufzunehmen begann. Er erzählte und erzählte von Streifzügen, die er angeblich unternommen hatte, und von Streifzügen, die er nicht unternehmen konnte, weil er ängstlich oder müde war oder einfach allein sein wollte. Er erzählte von Träumen und Wahnvorstellungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Freuden und Schmerzen, von Trauer und Schicksalsschlägen, von Nächten, in denen er ziellos umherstrich, von Tagen, in denen er herumirrte, vom sich auftuenden Himmel und sich spaltenden Bergen, von verlöschenden Sonnen und von Zeiten, in denen Anarchie herrschte und der Mörder zum Maß aller Dinge geworden war. Er erzählte von angeblichenFreunden, die darauf bestanden, dass er sich ihrer annehme, selbst wenn er sich zwingen musste, an ihrer Stelle in ihrem Namen zu sprechen. Er erzählte von den Mädchen, deren Gesichter er vor sich haben wollte, deren Züge ihm aber entwichen. Er erzählte von einem vor langer Zeit gehörten Lied, das eine zarte, schlanke Frau in sein Gedächtnis rief; dort verfolgte sie ihn unablässig, nicht weil es ihr Wille war, sondern weil er wusste, dass er nicht ohne sie leben könnte und nicht Selbstmord begehen würde, was auch immer geschähe. Auch seinen Platz würde er nicht verlassen, damit ihm nichts zustieße, wodurch er diese Frau verlieren könnte. Denn es war für ihn unvorstellbar, dass ein Tag verginge ohne ihren Besuch, ohne ihr Gesicht vor seinen Augen, auf dem Bild oder in allen Zimmern des Hauses. Sie ging oder lief, er vernahm ihre Stimme, sie rief und rief nach ihm, bis ihr Gesicht zu seinem ganzen Leben wurde und jeden Ort beherrschte, an dem er sich aufhielt. Der Mann freute sich, er freute sich sehr, er freute sich über die Frau, über das, was ihm zustieß, und er begann zu reden und zu reden, bis er zu einem Kino gelangte, hineinging und sich auf einen der Sitze in dem halb leeren Saal fallen ließ. Er starrte auf die Leinwand und sah viele Gesichter, die schließlich mit seinem Gesicht verschmolzen, das er vorher nicht erkannt, aber sofort als das seine wahrgenommen hatte. Er blickte nach rechts und links, als wollte er sich vergewissern, dass er nicht träumte. Er betrachtete die einzige Frau, die in ihren Sitz versunken den Film anschaute wie er. Er fragte sich, ob auch diese Frau versuchte, sich selbst oder das Gesicht des Mannes im Film oder das Gesicht der Frau auf dem Bild an der Leinwand zu erkennen. Empfand diese Frau eine Schicksalsgemeinschaft mit jener Frau, die den Mann krampfhaft dazu bringen wollte, sich zu bewegen und aufzustehen, bevor in breiter Schrift »Ende« auf der Leinwand flimmerte, die Lichter aufleuchteten und der Lärm einsetzte?
Er dachte, er verstehe, was auf der Leinwand ablief, so wie er auch verstand, was im Kinosaal ablief. Für jeden anderen war der ihn umhüllende Schleier aus Traurigkeit oder die seine Tage beherrschende Enttäuschung schwer zu verstehen. Es war, als sei er der Einzige, der dies alles sah, der zwei Filme sah: Der eine spielte auf der Leinwand, der andere vor seinem inneren Auge. Er allein nahm die Einsamkeit wahr, spürte, wie die Bitterkeit die Seele des Einzelnen zermalmen, wie Teig durchkneten und ihn an der nächsten Wegbiegung ausspucken konnte. Dieses Gefühl begleitete ihn so lange, bis er das Kino verließ und auf die Straße trat. Langsam ging er los, schleppte seinen Koffer, blieb dann und wann stehen, als wolle er sich an etwas erinnern, das er irgendwo vergessen hatte. Als er das erste Schaufenster erreichte, hielt er unversehens an. Er hatte die Maske im Kino liegen lassen! Aber er wollte nicht zurückkehren. Irgendwie fühlte er eine Befreiung. Er war wie ein Schauspieler, der von der Bühne abtritt, die Schminke wegwischt und auf die Straße geht, wo er den Menschen ins Antlitz blickt.
Er spürte, wie eine Träne über seine Wange rann. Wann hatte er zum letzten Mal geweint? Er betrachtete sein Gesicht in der Fensterscheibe. Er sah die Masken, die er ablegen musste. Er sah seinen Bruder, Junis, er sah seinen Vetter, der von allen Seiten von Tauben umflattert war, er sah Bataillone von Soldaten, die ihre Waffen wegwarfen und flohen, und musste weinen. Er sah Basra als eine Ansammlung von Sandsäcken, als einen Berg von Asche, und musste weinen. Er sah Bagdad in einer Feuersbrunst. Er sah sich meilenweit ausdehnende Gräberfelder. Er sah Kinder mit geronnenen Tränen auf den Wangen, die ohne
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