Jussifs Gesichter
sich. Sie wollte unbeteiligtsein, wie die Hand eines Arztes, der bei einem Kranken Fieber misst. Sie drückte auf seine Stirn und verharrte dort für Minuten oder Sekunden. Er bewegte sich nicht, aus Angst, die Hand zu vertreiben. Er schloss die Augen, als wolle er die Erinnerungen festhalten, die – von der Berührung der Hand aufgewirbelt – vor seinem Inneren vorüberzuziehen begannen. Erst als die Hand sich von seiner Stirn löste, merkte er, wie das Fieber in ihm aufstieg. Und als die Frau sich ihm zuwandte und ihn fragend ansah, spürte er, wie das Fieber weiter anstieg und ein Würgen seine Kehle drosselte, seine Zunge belegte und ihm den Mund verschloss.
»Schon wieder Fieber. Haben sie dich wieder mit tausend Nadeln gestochen, dir Serum und Pillen eingeflößt? Wann hört diese Folter endlich auf?«, fragte sie, bevor sie zum Fenster ging, den Vorhang zur Seite zog und, ihm den Rücken zukehrend, stehen blieb.
»Warum sagst du nichts? Hast du jetzt ganz und gar die Sprache verloren? Schau mich an, ich bin hier! Kein Phantom aus dem Kino!«
»Nein, du bist kein Phantom«, wollte er sagen. »Und selbst wenn du ein Phantom wärest, wärest du jenes kleine Mädchen, das deinen Namen trug. Selbst wenn du ein Phantom wärest, würdest du die Engel dieser Erde in dir vereinen. Deine Hand ist wie eine Friedenstaube, die Tote zum Leben erweckt und Zerstörung wie Erschöpfung dieser Seele heilt. Komm näher. Du wirst erkennen, welche Schönheit deine Gegenwart bringt, welcher Glanz von deinen Augen auf mich fällt, in der Finsternis, der Finsternis der Welt, der Finsternis aller geschundenen Seelen. Welch ein Duft strömt von deiner Haut in die Weite dieses Zimmers, in die Weite der Welt! Selbst als Phantom wärest du der Engel des verlorenen Paradieses: Dein Atem ist ein Gemisch des Hauchs aus ewigem Frühling, von Gräserfeldern und Obstgärten. Dein Speichel riecht zart nach Minze undNektar. Dein Wuchs ist schlanker und lebendiger als der einer Gazelle. Deine Oberarme, Unterarme und Handgelenke sind fest. Deine Finger gleichen den Stiften einer Hyazinthe. Deine Augen sind schwarz, darüber wölben sich die Brauen. Der Tritt deiner Füße ist wie das Fallen eines Tautropfens an einem klaren Morgen. Selbst als Phantom wärest du das Mädchen, von dem zu träumen der Junge, ihr Freund, sich nicht abhalten lassen wollte. Er wusste, dass der Tod an ihn herantrat, als er sie nicht mehr sehen konnte. Selbst als Phantom wärest du die Luft, die er atmet, das Auge, in das er blickt, das Herz, das in ihm schlägt. Nach all diesen Jahren, nach dieser weiten Reise, nach diesen vielen Verletzungen will er nicht auf dich verzichten. Selbst als Phantom wärest du am Ende doch das kleine Mädchen, mit dem er spielte, das ihm mit Gewalt genommen wurde, mit dem zu spielen er nie genug bekommen konnte. Du bist das kleine Mädchen, die Grundschülerin, die ihren Namen auf die Stein-und Holzbänke der Schule schrieb und in die Rinde der Bäume ritzte, auf die ihre Füße sie zulenkten, sobald sie sie sah. Du bist das kleine Mädchen, dem er seine ersten Liebesbriefe schrieb, deretwegen er für ein Jahr von der Schule gewiesen wurde, dessen Wege im Freien er weiterhin beobachtete, um ihm bis zur Haustür zu folgen wie ein Schatten. Du bist das Mädchen, dessen Bild er auf den Asphalt der Straße malte, auf die Mauern der Schule und Häuser, dessen Foto er aus den Schulakten stahl – er, der wieder für ein Jahr von der Schule suspendiert wurde, als man ihn erwischte. Nein, selbst als Phantom wärest du das Bild, das er stets in der oberen Hemdtasche mit sich trug und beim Schlafen unter dem Kissen versteckte. Was bedeuten mir schon die Straßen, die Haltestellen, die Museen, die Parks, die Bäume, die Kinos, die Bars, ja was bedeuten mir die Städte, die Bücher, die Häuser, die Sanatorien, die Arztpraxen, wenn ich dein Bild nicht in ihnen finde? Liebste, was bedeuten mir die Freunde, die Kollegen,die Verwandten, die Nachrichten, die Theater, die abgehackten Worte, wenn sie nicht deinen Namen wiedergeben? Umarme mich und bewahre mein Bild, wie auch ich all die Jahre dein Bild bewahrte. Küss mich, und behalte den Geschmack meines Kusses, erinnere dich an ihn, so wie auch ich mich an meinen ersten Kuss erinnere, den das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt mir auf die Wange drückte, dieses Engelsmädchen, dem ich keinen anderen Namen geben wollte, weil ich fürchtete, es in eine
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