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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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in tiefer Traurigkeit; mit ihr konnte es nur die Traurigkeit des Jungen aufnehmen, der viele Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste, bevor die Wahrheit ans Licht kam, man ihn entließ und stattdessen seinen Bruder einsperrte. Mit der Zeit werden die Menschen älter und beginnen, das ihnen widerfahrene Unglück für immer schlimmer zu halten. Niemand dachte mehr an die Geschichte des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt – außer einem einzigen Menschen. Er war der einzige Bürger dieses Landes der Siegreichen und Gedemütigten, der die ihrem Tod vorausgegangene Zeit im Gedächtnis halten wollte. Er ist heute sechsundvierzig Jahre alt und lebt in diesem von Gott verdammten und durcheinandergewirbelten Land, das Henker mit den Zügen von Beduinen überfallen und Armeen aus aller Welt geplündert haben. In diesem Land gibt es alles, was die Welt je an Mord und Totschlag gesehen hat. Unter den Mördern gibt es alle Erscheinungsformen, bereit, die sadistischsten Gräueltaten zu begehen .
    Er will leben, trotz Militär und Gefängnis, trotz Krankheit und Zersetzung der Religionen. Er vollbrachte das Unmögliche und blieb ohne den ihm seit seiner Kindheit anhängenden Mordverdacht am Leben; er musste sein Dasein sogar unter falschem Namen fristen. Er wollte sich von der ganzen Welt abschotten, dort, wo ihn nicht einmal sein eigenes Messer erreichte; so wollte er die Jahre der Kindheit und das Bild des Mädchens bewahren, an dessen Namen er sich nicht erinnern oder dem er in der Erinnerung keinen Namen geben wollte, um es nicht zu verlieren. Er war sich nicht im Klaren, dass er damit den Verlust seiner Frau zu erwarten hätte. Dieser Mann wollte, wie die anderen auch, in eine Heldenrolle schlüpfen in diesem Land der Siegreichen und Gedemütigten, wie er esgern ausdrückte. Er spielte die Rolle seines Bruders, um seine Schwägerin und seine Mutter zu retten. Aber er erkannte nicht, dass er damit zugunsten seines Bruders auf den eigenen Namen, ja auf sein Ego verzichtete und schließlich nicht mehr wissen würde, wer er selber war.«
    Er hörte ihr schweigend und geduldig zu, während sie am Fenster stand.
    »She is my only angel«, sagte er zu sich. »Warum erzählt sie mir eine Geschichte, die ich schon kenne?« Und er dachte voller Traurigkeit an das kleine Mädchen, das ihren Namen trug. Die Schüler seiner Klasse machten sich über sie lustig und riefen hinter ihr her: »Sarab, Sarab, Sarab, man hat uns in eine in Fata Morgana verwandelt, wir schweben wie eine Fata Morgana, Sarab!« Bei ernsteren Gelegenheiten sprach man sie als Tochter von Oberstudienrat Karim an, mit dem Namen ihres Vaters, des Englischlehrers. Er zweifelte nie daran, dass das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt der Grund dafür war, dass er damals und in all jenen Jahren so gute Englischkenntnisse hatte und sich später an der Universität bei der Fakultät für Europäische Sprachen einschrieb und – zusätzlich zum seit der Sekundarschule beherrschten Englisch – Deutsch und Spanisch lernte. Er war ebenso überzeugt, dass er um ihretwillen nicht umkam. Er wollte nicht, dass sie starb, wusste, dass sie sterben würde, wenn er sie vergaß. So bestand er all die Jahre darauf, sie am Leben zu erhalten, als hätte er ein besonderes Verfahren dafür entwickelt. Doch anders, als die anderen dachten und auch Sarab ihm in jener Nacht wütend sagte, hatte er sich eine kluge Vorgehensweise ausgedacht. Er übertrug die Schuld an dem begangenen Verbrechen auf sich selbst und konnte darum später mit seiner Last leben. Er redete sich einfach darauf hinaus, dass er ihr den Kuchen ja mit eigener Hand gegeben habe. Doch je mehr ihm sein Bruder durch den Kopf ging, destomehr hasste er ihn. Sarab behauptete: Du erwartest dir Trost, weil du am Anfang behauptet hast, du hättest ihr den Kuchen irrtümlicherweise gereicht, nicht dein Bruder. Du wolltest ein Held sein. Immer willst du die Hauptperson sein. Wie recht hatte sie damit! Und sie hätte ihm noch mehr zugesetzt, wenn sie gewusst hätte, dass er nicht mehr als Abwesender von dem Mädchen sprach, sondern ihm Briefe schrieb und Verse vortrug, als sei es den ganzen Tag um ihn. Er erzählte ihr, wie erschrocken er über die ihm zustoßenden Dinge sei, über seine Unfähigkeit zu handeln oder einen Ausweg zu finden. »Wir werden uns weiterhin lieben, jenseits der Grenzen aller Welten«, meinte er. Und: »Das Schicksal

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