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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Eltern davon, der Jüngere würde eines Tages Medizin studieren und Arzt werden. So hätte alles vonstatten gehen können, wenn nicht ein gewaltiger Umsturz in das Leben des Knaben hereingebrochen wäre, der ihn noch im Kindesalter ins Gefängnis brachte. Wenn ihr euch jetzt fragt, wie das geschehen konnte – es gibt eine einfache Antwort: Der Knabe verliebte sich. Niemand fragte, wieund warum. Das Aufblühen der Liebe hat nichts mit einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort zu tun. Sie hängt mit dem Herzen, den Augen, der Nase, den Ohren, mit allen Sinnen zusammen. Genau dies widerfuhr auch dem Jungen. Eines Morgens betrat auf einmal ein neuer Lehrer, der Englischlehrer, das Klassenzimmer, und mit ihm ein kleines Mädchen, das die Gefühle des jungen Mannes sofort erregte: Sein Herz begann heftig zu klopfen, sein rechtes Auge glänzte, seine Nase nahm einen unbekannten Duft wahr, der die Luft des Klassenzimmers in Parfüm, das Klassenzimmer selbst in einen Garten verwandelte. Seine Ohren vernahmen einen nie zuvor gehörten Klang, wie der leise Glockenton von der einzigen Kirche in der Stadt; er schien von weit her zu kommen, wie die Stimme eines unbekannten Gottes. Der Junge verliebte sich in das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. Er wandte den Blick von ihr ab, weil er der Klügste in der Klasse war. Sein Vater pflegte ihn zu loben: ›Bravo.‹ Und als er merkte, dass sein Sohn die englische Sprache schnell erlernte, sagte er: ›Das Englische ist dein Schlüssel zu dem Tor, durch das du in die Welt eintrittst.‹ Er hatte Vertrauen in ihn und machte sich auch dann keine Sorgen, als er ihn mit dem kleinen Mädchen unter dem einzigen Baum der Schule sitzen und Bilderbücher durchblättern sah. Das Leben der beiden hätte glücklich verlaufen können. Doch wie in Bilderbüchergeschichten oder in Filmen lauerte das Unheil den Guten auf. Das Unglück ließ nicht lange auf sich warten: Es war der großer Bruder. Der Knabe ahnte nichts davon, und es ging über seine Vorstellungskraft, dass sein Bruder eines Tages so böse sein würde. Er wartete ab, bis sie einen Schulausflug in ein nahes Dorf unternahmen. Hinter der Mühle nahe dem Haus des alten Müllers setzte sich der Verliebte mit seinem Mädchen unter einen am breiten Bach stehenden Lotusbaum. Er holte einen kleinen Kuchen hervor, denseine Mutter ihm für diesen Ausflug gebacken hatte, und sagte: ›Iss mit mir. Erst beißt du ein Stück ab, dann ich.‹ Das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt tat wie ihm geheißen, aber bevor es fertig kauen und ihm seinen Anteil reichen konnte, rannte es aufspringend los und hielt sich mit der Hand die Kehle; seine Augen quollen hervor. Der Junge verstand nicht, was vor sich ging. Das Mädchen zeigte mit dem Finger auf den zu Boden gefallenen Kuchenrest, und er erkannte die Nägel darin. Dann merkte er, wie sich ein Kreis von Klassenkameraden um sie bildete, einige zerrten das Mädchen weg, andere ihn. Doch als der Junge sich befreien und dem Mädchen zur Hilfe eilen wollte, spürte er zwei ihn festhaltende Hände und sah seinen Bruder, der den anderen Kindern zuschrie: ›Haltet den Mörder!‹ Viel Zeit musste vergehen, bis er begriff, dass sein Bruder den ursprünglichen Kuchen absichtlich gegen den mit den Nägeln ausgetauscht hatte. Und als er ihn einmal nach dem Grund fragte, wurde ihm geantwortet, dass dieser Kuchen dem Nachbarshund gegolten hätte, um dessen unablässiges Bellen zu beenden. Er glaubte ihm sogar, als fräßen die Hunde in diesem Land nichts anderes als Kuchen. An jenem Tag spielte sich sein Bruder auf wie der Anführer einer Bande, ähnlich der Bande der einundzwanzig, die du im Kino gesehen hast. Das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt starb noch am selben Tag. Es verschwand, ja es verschwand von dieser Welt, aber nicht aus dem Kopf seines Vaters. Der Arme wurde verrückt; drei Tage nach dem Unglücksfall brachte man ihn ins Irrenhaus. ›She was my only angel!‹, schrie er auf Englisch und hörte an jenem Tag auf, jemals wieder Arabisch zu sprechen. Ich habe ihn in seinen letzten Lebensjahren oft dort gesehen, diesen Alten, der auf Englisch wirres Zeug faselte, die Welt verfluchte und beschimpfte. Außer dem kleinen Mädchen hatte er niemandengehabt; die Mutter war bei der Geburt gestorben. So war er immer allein und erhielt bis zum Tod nie Besuch. Er starb

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