Jussifs Gesichter
dir verborgen geblieben, wie die Jahre ins Land gingen, weil du immer noch mit jenem Augenblick verhaftet warst. Du kleidetest deinen Bruder in das Gewand des Mörders, weil du glaubtest, er habe die Nägel in den Kuchen gesteckt, der das Mädchen tötete. Du wolltest dich nicht zu jenen Menschen rechnen, die das gegenseitige Morden feiern und Krieg um Krieg führen. Du machtest dir ein Bild vom Tod und vom Morden um dich herum vor und zittertest immer noch vor Schreck, weil du in der Wahnvorstellung lebtest, wirklich der Mörder gewesen zu sein. Du wolltest dich von der fixen Idee befreien, gegen deinen Willen zum Mörder geworden zu sein. Ich weiß, wie sehr dich dieser Gedanke bedrückte, ich kenne deine Unruhe und deine Angst genauso gut wie die zehn Finger meiner Hände. Wie oft musste ich dich überzeugen, dass ich mit dir zusammen das kleine Mädchenmit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt liebe, dass die Vergangenheit, wie auch immer sie aussieht, eine bloße, morgen sich regende Erinnerung ist?«
Er beobachtete, wie sie sich unversehens bückte und zwei aus einem Blumenstrauß gefallene Blütenblätter aufhob. Sie zerrieb die Blätter zwischen den Händen und warf sie aus dem Fenster. Vor dem Fenster begann die Nacht eine schwarze Grenze zu ziehen, die den Garten und das Haus von der Hitze und der unbekannten Welt da draußen abschirmte, während sich im Zimmer Jasminduft ausbreitete. Dann war es wohl ein Strauß von Jasmin, dachte er. Er wusste, dass junge Mädchen gern Jasmin verwendeten, nicht nur Sarab. Er erinnerte sich, wie oft er im Haus seiner Familie den Blütennektar gerochen hatte, durch das Fenster des Schlafzimmers von Mariam, seiner Schwägerin. Dieser Wohlgeruch war vom Garten bis zum Bett und in seine Nase gedrungen, und er fragte sich oftmals, ob Mariam ein Jasminparfüm benutzte oder ob es ihr natürlicher Duft war. Er schloss die Augen und vernahm wieder ihre Stimme.
»Seit wann kennen wir einander? Seit fünfundzwanzig Jahren? Länger? Weniger lang? Es ist egal, wie viele Jahre es sind, solange der Tod selbst die Luft verpestet, die wir in diesem elenden Land atmen, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten – wie du es gern ausdrückst. Wichtig ist, dass das kleine Mädchen mit uns gewachsen ist. Glaube mir, ich sehe es vor mir, als reife Frau. Sie trägt lange schwarze Haare, keine blonden Zöpfe. Ihre hier unter dem Fenster funkelnden Augen sind nicht grün, sondern groß und schwarz. Sie ist schlank und zart, hat volle Lippen und schön gefügte Zähne. Ihr T-Shirt ist immer noch vollkommen blau, nichts fehlt, nicht einmal der Name. Schau mich an! Oh Gott, stell dir vor, sie trägt sogar den Namen, der zu ihr passt: Sarab, Fata Morgana! Wie sehr ich sie beneide. Sie muss glücklich sein, weil du sie liebst. Ich habe sie nie jammern hören, und ich habe mir gewünscht, ihren Platzeinzunehmen. Ja, ich wäre gern das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, das fröhlich mit dir die Schulbank drückte, mit dir die Seiten der Comics umblätterte. Möchtest du, dass ich dir die Geschichten in Erinnerung rufe, die wir allein von den Bildern ablasen, da die Sprache der Bücher Englisch war? Ich werde dir eine einzige, dir bekannte Geschichte erzählen.«
Er sah, wie sie von ihrem Platz am Fenster auf den Tisch zukam. Jetzt, im schwachen Licht der draußen brennenden Lampen bemerkte er ihr ruhiges Gesicht. Die Ernsthaftigkeit machte sie jünger. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, holte tief Luft und begann zu sprechen.
»Vor langer Zeit gab es einmal einen kleinen Jungen. Er war etwa elf Jahre alt. In der Schule bemühte er sich sehr; darum war er der Beste in seiner Klasse. Man zeichnete ihn sogar mit der Medaille »Held der Klasse« aus und verlieh ihm den Titel »Vorbild der Klasse«. Das Leben des Jungen ging gemächlich seinen Gang, wie das Leben im Lande überhaupt. Der fleißige Knabe schrieb und machte seine Hausaufgaben. In Tagen mit Stromausfällen, die es damals wie heute oft gab, brachte ihm seine Mutter eine Kerze, in deren Schein er lernen und arbeiten konnte. Oft bekam die Mutter Angst, der böse Blick würde auf ihn fallen. Aber der Vater beruhigte sie, ihr Sohn sei schlau genug, besser als sein großer Bruder, der immer nur spielte und sich mit den Nachbarskindern stritt. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der sich als Erwachsener freiwillig zum Militär oder zur Polizei melden wollte, träumten die
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