Jussifs Gesichter
hat uns einen schweren Schlag verpasst.« Manchmal trug er sich mit dem Gedanken, Selbstmord zu begehen, widerstand aber immer wieder dem Reiz, im Reich der Toten mit ihr zusammen zu sein, und bevorzugte ein Dasein in der Welt der Lebenden. Wann immer sie vor ihm in Erscheinung trat, vergaß er seine Todesvorstellungen und richtete sein Sinnen auf das Leben. So war es ihm ein Leichtes, seinen Tod zu leugnen.
Er dachte an das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, wie sie unter dem einzigen Baum bei der Schule neben ihm saß. Sie habe seinen Vater überlistet und sei aus dem Lehrerzimmer ausgebüchst, wohin der Vater sie in den Freistunden mitnahm. Er erinnerte sich, wie sie schweigend die Seiten der Comics umblätterten, die sie von seinem Vater bekam. Sie hatten wegen des englischen Begleittextes keine Ahnung, was die Comicfiguren sagten. Aber schon durch das Umblättern der Seiten gingen sie mit ihnen auf die Reise. Er hatte vergessen, wie sie hießen. Aber was brauchte man Namen? Sarab erklärte, Namen seien nicht nötig, auch Engel trügen keine Namen, weil ihre Gestalt sich unentwegt verändere. Auch die Comicfiguren wandelten sich ständig, nahmen sie mit sich, in große Wälder,auf hohe Berge, in Städte, in denen es von Menschen, Autos, Wolkenkratzern nur so wimmelte, in Häfen, in denen große Schiffe vor Anker lagen, auf Meere, die von Segelbooten überquert wurden, in Bahnhöfe voll vorher nie gesehener Züge. Sie staunten bei der Betrachtung dieser Bilder, als bekämen sie sie zum ersten Mal zu Gesicht.
Als er einmal traurig war, weil er den Text zu den Bildern nicht lesen konnte, tröstete sie ihn damit, dass der Vater sie gelehrt habe, die Geschichten allein durch das Anschauen der Bilder zu verstehen. In den Geschichten siegte immer das Gute. Als er seine Zweifel daran zum Ausdruck brachte, deutete sie mit dem Finger auf eine Figur und fragte, ob er das Gute nicht mit eigenen Augen sehe. Oder sie zeigte auf eine andere Figur und erkundigte sich, ob diesmal nicht das Schlechte deutlich erkennbar sei. Da begann er sich Gedanken darüber zu machen, wie er sie von Schlechtigkeit und Trauer fernhalten könne. Sein Herz klopfte heftig, als wolle es ihm aus der Brust springen, und er begann zu schwitzen. Dann flüsterte er dem kleinen Mädchen fast unhörbar ins Ohr, dass sie später, als Erwachsene, alle diese Städte zusammen besuchen und die Meere befahren würden. Seine Wangen röteten sich, verschlafen sah sie ihn an und schlug ihm mit dem Heftchen sanft auf den Kopf. So saßen sie lange beieinander, fühlten nicht, wie die Zeit verrann, bis das Klingeln der Schulglocke oder die Schritte ihres sich nähernden Vaters sie aufschreckten.
Wenn sie ihn dann verließ, wurde er traurig und ängstigte sich, dass er sie anders als die Comic-Helden nicht vor dem Bösen würde schützen können. Es war, als ahne er die späteren Ereignisse oder fürchte sich vor einer anderen Zeit, in der das Böse alles beherrschen würde und nicht einmal die Menschen sich selbst retten konnten. Damals, als Kind, konnte er sich jedoch nicht vorstellen, was die Zukunft bringen würde. Weder die damalige Zeit noch die Erfahrung ließ vermuten, was demkleinen Mädchen in Kürze, was ihm selbst, was Sarab, Mariam, seiner Umgebung, den Menschen, dem Land, der Welt in fernen Jahren zustoßen würde. Für ihn war es unvorstellbar, dass eines Tages ein Krieg ausbrechen würde, Autobomben explodieren und Nägel durch die Luft fliegen würden. Es überstieg all seine Erwartungen, dass Mord zum Alltag gehören könne und Menschen wetteifern würden, andere umzubringen. An jenem Abend, als er der am Fenster stehenden Frau mit dem Namen des kleinen Mädchens lauschte, die über jene Jahre sprach, mit denen er seit langem abgeschlossen zu haben meinte, konnte er den Eindruck der beiden Bilder nicht mehr verkraften und musste sich entscheiden: Sollte er aus diesem Haus fliehen und in der Person seines Bruders sein Leben weiter fristen? Oder sollte er im Salon des Hauses sitzen bleiben, ohne zu wissen, wer er wirklich sei, und wie jeder andere unbekannte Mensch zu sterben lernen: als Unperson, namenlos, gesichtslos, ohne Erbe?
Eine Weile schwiegen sie beide. Sie hatte sich wieder an den Tisch gesetzt, verharrte dort ruhig und starrte ins Nichts, als fixiere sie ein Bild auf der Tischdecke.
»Was ist für mich ein Leben ohne dich? Selbst wenn sie dich wieder ins Krankenhaus bringen und dir einen
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