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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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eine über ihre Wange laufende Träne weg, blickte ihn aber verhalten lächelnd an. Dann öffnete sie ihre beim Eintreten auf den Tisch geworfene Handtasche, holte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und legte beides auf den Tisch.
    »Entschuldige, dass ich die Geschichte von dem kleinen Mädchen zur Sprache gebracht habe und dir mit diesem leeren Geschwätz in den Ohren liege. Eigentlich wollte ich dir von mir erzählen. Sobald du mich noch besser zu kennen meinst, zeigt die Geschichte eine Seite, von der du dich fernhalten solltest. Es ist auch dir offenkundig, dass wir Menschen für uns je nach Gewohnheit einige Verhaltensweisen entwickeln, um dieses Leben – unser Leben – ertragen zu können. Eine zweite Wunde, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Wir erinnern und wir vergessen, wir vergessen und wir erinnern. Oder wie du ständig wiederholst: Wir vergessen, dass wir uns erinnern, und wir erinnern uns, dass wir vergessen. Wann immer wir handeln, vergessen wir. Wir vergessen, bis uns eines Tages auffällt, dass wir wie ein Vogel über dem Abgrund fliegen und dieses Vergessen wie das Erinnern ein Brunnen mit nie versiegendem Wasser ist. Wann immer einer unter uns schweigt, vertieft sich der Brunnen, bis das Gedächtnis oder die seltsame Geschichte zu einem Teil unserer selbst wird. Dies fühlte ich stets, wenn ich dich auf mich zukommen sah. Wann immer ich mein Schweigen brechen wollte, fragte ich mich: ›Ist es nicht besser zu schweigen, um ihn nicht zu verletzten? Vielleicht werde ich ihm gar nicht die Wahrheit sagen!‹ Es ist die lähmendeAngst, einer von uns könne nicht bei der Wahrheit bleiben. Dabei ist keiner von uns in der Lage, jemals die ganze Wahrheit zu sagen. Das liegt nicht daran, dass ich etwas verbergen will, sondern weil die Wahrheit lieber häppchenweise dargeboten werden will. Und weil das Gedächtnis selbst mit dem hier gegenwärtigen Traum untergeht.«
    Als sie das Wort »hier« aussprach, hob sie ihre rechte Hand und legte sie auf ihre linke Brust.
    »Ich würde dir so gern meine Geschichte erzählen, von hier, dem Ort meiner Seele aus. Ich bin sicher, dass dir die Art und Weise, wie ich dir meine Geschichte gerade erzählt habe, nicht gefallen hat. Das sehe ich dir an. Also bitte mich, sie dir noch einmal, aber anders zu erzählen.«
    Plötzlich legte sie den Kopf nach hinten und kicherte wie nach einem Witz. Sie nagelte ihren nach draußen gerichteten Blick fest, als richte sie das Wort an das Haupt eines ihn überragenden Phantoms. Dann begann sie von neuem.
    »Mir war klar, dass das Glück nicht immer auf meiner Seite steht, aber das betrifft den Verstand. Mit Herzensangelegenheiten verhält es sich anders. Einerlei, eine wie schwere Enttäuschung das Herz erleidet, es verzichtet niemals, beharrt bis zum letzten Schlag auf seinen Hochmut. Normalerweise führt uns Frauen unser Instinkt nicht hinters Licht. Man meint, die Chemie bringe zwei Menschen zueinander. Ich weiß nicht, inwiefern das zutrifft. Aber ich weiß sehr wohl, dass ich mit dir über die Liebe sprechen kann, über den Mann meiner Träume, und wie ich ihn zum ersten Mal gesehen und kennen gelernt habe. Er, und nur er, ist der Mann, der das Glück dauerhaft auf meine Seite zu stellen vermag. Als er im Gartencafé des britischen Zentrums oder British Council in Bagdad auf mich zukam, sagte er: ›Seit meiner Kindheit habe ich deinen Namen wieder und wieder gesagt: Sarab !‹ Diese Worte gingen mir unablässig durch den Kopf, und da wurde die Sache für michernst. Denn wie es schien, dichtete er auch damit. Er wusste, dass er mein Herz schon vor seinen ersten Worten mit seinen Blicken beherrschte. Das war das Ergebnis seiner Blicke und damit basta. Seine Anwesenheit war genug. Eigentlich war er verliebter als ich. Alle Geschichten, die er mir erzählte, quollen über von Leidenschaft, auch die Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, dessen Stelle ich so gern eingenommen hätte. Von da ab änderte ich meine Gewohnheiten und begann, meine Kleidung nach seinem Geschmack auszusuchen. So wählte ich oft die Farbe Blau, nach dem T-Shirt des kleinen Mädchens. Ich schwöre, dass ich in meinem ganzen Leben – weder vor ihm noch nach ihm – je einem Mann wie ihm begegnet bin. Verrückt, wie ich nach ihm war, wurde ich zu einem Phantom. Ob ich in mein Glück oder mein Unglück rannte, war mir gleichgültig. Wie auch nicht? Immer wieder hörte ich von

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