Jussifs Gesichter
ihm: ›Seit meiner Kindheit habe ich deinen Namen wieder und wieder gesagt: Sarab !‹ Also heirateten wir ein Jahr nach unserer ersten Begegnung und lebten ein weiteres Jahr in vollkommenem Glück – obwohl seine Lage schwierig war, obwohl er verfolgt wurde, fahnenflüchtig war und einen falschen Namen trug. Wir hielten nichts von amtlichen Papieren, aber wir waren mehr als nur nach derartigen Papieren verheiratet. Nie sprach er ein böses Wort gegen mich. Wir waren glücklich, wir liebten einander wahnsinnig. Aber – daran erinnere ich mich bis heute – wir vermieden das gegenseitige Versprechen: ›Ich werde dich ewig lieben‹, als sei uns bewusst, dass es in diesem Land, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten, wie du es gern ausdrückst, keine Ewigkeit geben kann. Aber wir waren glücklich, selbst mit diesem Geheimnis. Was immer ich vergesse, ich vergesse nicht die Linie, die unser Glück von unserem Unglück trennte. Eines Tages bekamen sie ihn zu fassen und steckten ihn erneut ins Militär, diesmal unter einem anderenNamen. Das war nichts Neues für ihn, aber mit einem so elenden Los hatte er doch nicht gerechnet. Er wollte unter einem noch mal anderen Namen mit mir anfangen und die Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt nie wieder hören. So fälschte er seinen Personalausweis und änderte seinen Namen. Er übersah dabei, dass sie ihn auch so aufgreifen würden, weil der ursprüngliche Besitzer seiner neuen Identität vor ihren Kriegen außer Landes geflüchtet war und jenseits der Grenzen lebte, als er den Dienst in seiner Einheit hätte antreten müssen. Von diesem Tag an besaß unser Glück ein Datum. Dieses Datum bestimmten wir nicht selbst, sondern es wurde uns von außen auferlegt. Du weißt ja, wie geschickt sie hier im Erfinden von Störungen sind und den letzten Rest sauberer Luft verschmutzen. Das Glück ruhte auf den Freitagen, genauer gesagt auf den Nächten von Donnerstag auf Freitag, auf den Tagen also, an denen er aus der Kaserne nach Hause kam. Als der Krieg ausbrach, war das Datum unseres Glücks außer Reichweite, nur noch auf die Urlaubstage beschränkte es sich. Er war Soldat, und er musste sich früh von unserem Lager erheben. Ich bereitete ihm das Frühstück und betrachtete sein rundes Gesicht, das vor der Zeit zu altern schien. Seine müden Blicke, die Falten unter seinen Augen, sein bloßer Rücken, wenn er sich nach dem Duschen halb nackt ins Gästezimmer setzte ... Ich fragte mich, ob ich diese Haut eines Tages wirklich nicht mehr zu berühren wagte? Ich sehe mich an jenem Tag unbemerkt hinter ihm stehen. Wenn ich daran zurückdenke, bekommt dieser Tag etwas wunderbares, der Morgen eines Freitags nach dem vorherigen. Ich habe sie alle gezählt und dazu auf einem Zettel eine Liste angefertigt, die ich aus der Handtasche holen könnte, wenn du willst: die Zahl der glücklichen Tage, die mir im Leben blieben. Freitagmorgen, das Geschrei der Kinder von der Straße. Er sitzt dort, wo du jetzt sitzt, rauchteine Zigarette, trinkt genussvoll und blättert in einem alten Comic-Heft, in einem Kindercomic. In den Tagen des Krieges sagte er immer, man dürfe nur noch Kindercomics in fremden Sprachen lesen. Er wurde von einer Einheit in die nächste versetzt. Er wurde eingesperrt und wieder entlassen. Während all dieser Phasen der Abwesenheit und Versetzung erwarteten wir stets die nächste Nacht von Donnerstag auf Freitag, um aufs Neue unserem Glück zu frönen. Wir folgten einem Ritual, das niemand zerstören konnte – allen Zerstörungen und Verwüstungen an Land und Menschen zum Trotz. Als er seinen Militärdienst beendete, war unsere Freude unfassbar. Wir hatten es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Ich unterrichtete in einer nahen Schule; mein Gehalt reichte für uns beide. Außerdem vererbte uns mein Vater ein nicht unbeträchtliches Vermögen, als er im Krankenhaus verstarb. Unsere Tage flossen gemächlich dahin, wir dachten sogar, die Namensänderungen hätten ein Ende gefunden. Er war traurig wegen des Verschwindens seines Bruders oder – wie er es ausdrückte – wegen seines Todes. Er hatte keine Ahnung, was wirklich aus ihm geworden war, wollte es vielleicht auch gar nicht wissen. Es war, als hätte er vergessen, was sein Bruder dem kleinen Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt zuleide getan hatte. Es war, als begrabe er durch die Namensänderungen den Mörder, mit
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