Jussifs Gesichter
dem sein alter Name verknüpft war, als sei er überzeugt, dieses Verbrechen selbst begangen zu haben und nicht sein Bruder. So war er eben. Von Kindheit an wollte er als heiliger Held, nicht als Gott auftreten. Er wusste, dass Gott nach seinem Ratschluss nicht nur Gnade gewährt, sondern auch Strafen auferlegt.
Eines Tages besuchte uns seine Mutter. Und da ihr Anblick ihn traurig machte, beschloss er, sich in zwei Personen zu verwandeln und die Rolle seines Bruders zu spielen. So begann er, nachts zu der Frau seines Bruders zu schleichen. Seine Schwägerinredete seiner Mutter ein, ihr Mann könne wegen seiner Verpflichtungen nicht auch tagsüber bleiben. Schließlich teilte er mir seinen Wunsch mit, den Namen seines Bruders voll und ganz anzunehmen, weil er das Katz-und-Maus-Spiel leid sei. Ich lehnte es ab, dass er dieses Spiel zu weit triebe. Doch das Unglück nahm seinen Lauf, und heute möchte ich es beenden. Es geschah an einem Donnerstag. Er sollte kommen. Aber er kam nicht. Ich konnte es nicht ertragen, bis zum nächsten Tag zu warten. Also mietete ich mir ein Taxi und fuhr zu seinem Elternhaus und zu seinem Arbeitsplatz. Man teilte mir mit, dass er nicht aufgetaucht sei und niemand wisse, was ihm zugestoßen sei. Nur Mariam machte deutlich, sein Bruder habe ihn verleumdet und stecke hinter seiner Verhaftung. Niemand konnte in Erfahrung bringen, in welches Gefängnis, in welche Folterkammer man ihn geworfen hatte. Mir aber war klar, dass ihm etwas zugestoßen sein musste und seine Rettung von diesem Augenblick an schwierig sein würde. Ich hüllte mich in schwarze Kleidung und sagte mir: Ich werde in der Erinnerung an ihn leben, wie er in der Erinnerung an das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt gelebt hat. Nach meinem Willen soll er lebend zu mir zurückkehren, sich am Freitagmorgen hierher setzen, seine Zigarette rauchen, etwas trinken und in Kindercomics blättern. Doch viele Jahre mussten verstreichen, neue Zeiten mussten anbrechen bis zum Eingang der Nachricht, er sei aus dem Gefängnis entlassen worden, aber nicht heimgekehrt. Wieder hatte er sich einen neuen Namen zugelegt und zog von Stadt zu Stadt, von einer Beschäftigung zur anderen, bis es eine Umwälzung der Lage im Lande gab und auch die Menschen sich verwandelten. Regierungen und Königreiche gingen zugrunde, die Armeen der Welt marschierten ein. Mit ihnen löste sich der Fluch, der auf dem Land zu lasten schien. Statt wie erhofft zu mir heimzukehren, erfuhr ich, dass er wieder in Fesseln gelegt und anschließend in dieNervenheilanstalt eingeliefert worden war. Er hatte sich geweigert, sich mit dem Namen, den sie ihm gaben, rufen zu lassen, und geschrien: ›Ich bin Jussif, nicht Junis!‹ Außer einem Arzt glaubte ihm niemand. Was meinst du: Gibt es im Land der Siegreichen und der Gedemütigten doch noch Engel? Die Anwesenheit des Arztes hinderte ihn allerdings nicht zu fliehen. Er entkam dem Krankenhaus und verbarg sich schließlich in seinem ersten Unterschlupf: in dem Haus, das sein Schwiegervater in den ersten Tagen des Untertauchens für sie gekauft hatte, das er und seine Frau verlassen mussten, wo ihn niemand kennt. Vor langer, langer Zeit hat er sich dort verschanzt und seitdem das Haus nicht mehr verlassen. Radio und Fernsehapparat hat er dem erstbesten Dieb geschenkt, der sie stehlen wollte. Er verbringt seine Tage mit unendlichem Schreiben. Er möchte seine eigene Geschichte und die Geschichte seiner Lieben erzählen, die Geschichte der Henker und die Geschichte der Opfer, die Geschichte der Mörder im Heiligengewand, die Geschichte der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft; alle Geschichten, die sich um ihn herum ereignen: erfundene und wirkliche, eingebildete und geschehene. Er schreibt, als sei dies die letzte Gelegenheit, alles zu offenbaren, was er schon vor undenklicher Zeit offenbaren wollte. Er schreibt und nimmt seinen Tagesablauf auf einem alten Kassettenrekorder auf. Nur am Freitag setzt er sich vors Fenster, raucht eine Zigarette, trinkt genussvoll eine Flasche Bier und liest Kindercomics, als wolle er dadurch all jene Freitage zurückgewinnen. Seine Frau aber hat vergeblich versucht, ihn zu vergessen. Sie betet Tag und Nacht, dass er wieder zu sich selbst findet, um von neuem an seiner Seite glücklich zu sein und zu versuchen, die Wonne des Freitags und der Donnerstagnacht, die Wonne der Zigarette, des Biers und der Kindercomics noch einmal zu genießen.«
Er sah,
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