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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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mich. Das Vertrocknen meiner Leidenschaft nimmt mich mit, das Lechzen nach Liebe setzt mir zu. Niemand außer dir kann diesen Körper wässern. Niemand außer dir kann diesem nach Liebe hungernden Körper wieder Leben einhauchen!«
    Auf einen Schlag stürzte sie ihr Glas hinunter. Dann sprang sie auf, kam näher und strich über seine Stirn. Er spürte, wie ihre Lippen einen Kuss daraufdrückten. Sie rückte ein wenig von ihm ab und neigte sich zum Fenster, um es zu schließen. Dann straffte sie sich vor ihm und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.
    »Schau dir meine Brüste an. Schau dir meinen Körper an, komm zu mir. Wenigstens werde ich dir heute eine neue Geschichte zum Erzählen schenken, damit du eine Szene beschreiben kannst, in der das Leben, die Leidenschaft pulsiert, wie man so sagt, keine von diesen traurigen Herz-Schmerz-Histörchen. Magst du keine sinnlichen Bücher? Hast du mir nicht von dir oder deinem Schriftstellerfreund Harun Wali berichtet, wie er zu Beginn des Militärdienstes Sexgeschichtchen für die Soldaten schrieb, um sich über Wasser zu halten? Diesmal wirst du mit mir prahlen. Keine Sexgeschichten wie früher, keine Phrasen voller Seufzer und Koketterie, wie von meinen Freundinnen, die die Männer verleiten wollen, sie zu heiraten. Du wirst ein Drama schreiben – überquellend vor Leidenschaftund bedeutungsschwer. Es ist deine letzte Chance, bevor ich verschwinde.«
    Jussif erinnerte sich, wie er seine Mutter nach einer einwöchigen Unterbrechung besuchen wollte, aber bei der Ankunft herausfand, dass ihre Füße die Schwelle nicht mehr überschritten hatten. Seine Tante war allein und rief weinend: »Mariam ist mit den Mädchen auf und davon, und deine Mutter ist tot! Trotz der Bombenangriffe wollte sie unbedingt zum Markt gehen, und dort ist sie vor Traurigkeit umgekommen. Du weißt, wie schwach ihr Herz war.« Damals dachte er: ›Seltsam, wie schnell die Unglücklichen in diesem Land, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten, sterben.‹
    Was sollte das andere Ich jetzt sagen, da er diese Frau anblickte, die sich so sehr von Mariam unterschied, diese Frau, die im Wachzustand wie im Schlaf starr vor ihm stand, die sich ihrer Kleider entledigte und ihn anflehte, mit ihr zu schlafen? Er hatte keinerlei Vorstellung. Aber da vernahm er ihre Stimme: »Es hat keinen Zweck, mit dir zu reden, wenn du die ganze Zeit über kein Wort von dir gibst! Ich bin hier mit dir in diesem Haus. Ich rede mit dir, und du schweigst. Welchen Eindruck macht mein Reden auf dich? Es bedeutet dir nichts, ob ich glücklich oder unglücklich bin. Mir ist bewusst, dass ich selbst mein Unglück bin. Weshalb komme ich nach wie vor zu dir und erlaube mir, all deine Geschichten anzuhören: phantasierte und wahre, erlogene und glaubhafte, erfundene und gefundene? All diese Geschichten, die du auf dem Kassettenrekorder aufgenommen hast oder die hier durch die Luft schwirren. Vielleicht ist auch von mir alles nur ausgedacht. Sollen wir zusammen ins Irrenhaus gehen? Vielleicht will nur ich nicht glauben, dass ich wirklich verrückt bin? Wenn ich verrückt wäre, würde es mir nichts ausmachen, dich zu verlassen. Aber wenn ich nicht verrückt wäre, würde ich all diese Leiden verdienen. Willst du nicht sprechen? Ich möchte nicht von dirhören, du bereutest, mir irgendwann einmal gestanden zu haben, dass du mich liebst! Bitte, sag nicht, du hättest mich verlassen und mit der Frau deines Bruders geschlafen, weil du dich schuldig fühltest, das kleine Mädchen, Sarab, mit einer anderen Frau betrogen und auf diese Weise wirklich getötet zu haben. Nein, sag dies alles nicht. So tötest du mich nur ein weiteres Mal. Es ist besser, du schweigst. Es ist besser, wenn ich gehe, um nichts anderes von dir zu hören als jenes Wort. Aber ich möchte abreisen und die Berührung deiner Fingerspitzen mitnehmen. Komm, so schlaf doch mit mir, ich flehe dich an im Namen Gottes!«
    Diesmal spürte er, wie das andere Ich sich ihm noch beharrlicher aufdrängte und ihm zuflüsterte, dass die Frau es mit allem ernst meine. Sie flehe ihn nur an, weil sie zu einem gefährlichen Entschluss gekommen sei. Und es liege an ihm, ihrer Absicht einen Riegel vorzuschieben.
    Da stand er auf und bewegte sich auf sie zu. Er hob eine Hand, streichelte ihre Wange und sah, wie sie die Augen schloss. Sie lehnte sich kurz zurück, blickte ihm ins Gesicht und stieß ein kurzes, ekstatisches Lachen aus. Es war ihr gewohntes Lachen: rein, fröhlich und weitherzig.

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