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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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wie sie die Hand nach der Schachtel mit den Zigaretten streckte, eine herausnahm und ihm gab. Dann sah er sieaufstehen, wieder huschte ein kaum merkliches Lächeln über ihr Gesicht. Sie kam auf ihn zu und küsste ihn ohne besondere Regung auf die Wange. Es war, als wolle sie ihm zeigen, wie wenig sie das berühre. Aber auch, als sie seine und dann ihre Zigarette anzündete, handelte es sich nur um eine Mütterlichkeit ohne Anteilnahme. Sie ging zum Kühlschrank und kam mit einer Dose Bier und zwei Gläsern zurück. Beides stellte sie auf den Tisch, öffnete die Dose, schenkte ein und reichte ihm ein Glas. Dann setzte sie sich wieder an ihren Platz und betrachtete ihn durch den Zigarettenqualm.
    »Manchmal besuche ich ihn im Haus, wenn er schläft, manchmal lege ich mich sogar an seine Seite. Gern würde ich lange dortbleiben und mit seinem traumversunkenen Geist sprechen, ihm die Albträume vertreiben. Ja, ich würde gern lange dortbleiben, aber ich habe vor dem Einschlafen Angst und dass er mich beim Erwachen entdeckt und wieder festhält. Oft habe ich das Gefühl, er spürt, dass ich ihn besuche. Er isst alles, was ich für ihn koche oder in den Kühlschrank stelle. Er spricht zwar nicht mit mir, aber ich bin überzeugt, er liebt mich noch ebenso wie ich ihn. Das sehe ich in seinen Augen, an all seinen Gesten. Er lässt mir genug Platz im Bett, weil ich mich im Schlaf hin-und herwälze. Er liebt mich. Und ich liebe ihn noch mehr, wenn ich ihn freitags morgens so sitzen sehe: Er raucht seine Zigarette und trinkt genussvoll ein Glas Bier, während er einen Kindercomic durchblättert.«
    Sie hob ihr Glas und sagte: »Zum Wohl. Auf unser beider Wohl.«
    Er trank einen Schluck aus seinem Glas. Wie schön sie ist, selbst in dem schwarzen Gewand. Ja, sie ist immer noch schön, obwohl sie fahrig und etwas verwirrt zu sein scheint. Fühlt sie sich verantwortlich? Empfindet sie Reue? Wird sie morgen bereuen, hier mit mir gegessen und mir erlaubt zu haben, michihr wieder zu nähern? Fürchtet sie, sich der Gefahr der Nägel meines Bruders auszusetzen?
    »Warum gehen wir nicht ins Schlafzimmer. Dieser Körper hat nie zu mir zurückgefunden. Ich schwöre, er gehörte ihm von dem Tag an, als ich beschloss, ihn leben zulassen. Du kannst mit meinem Körper machen, was du willst. Er gehört mir schon seit vielen Jahren nicht mehr, seit den Jahren der Katastrophe. Du kannst mit ihm machen, was dir in den Sinn kommt. Es gibt keine Tabus. Es ist deine letzte Chance. Ich glaube nicht, dass ich mich dir noch ein zweites Mal hingeben werde. Ich habe dich zwar schließlich gefunden, aber auch ich habe jetzt die Pflicht, mich zu verbergen. Ich muss mich wie dich beschützen, mich wie dich am Leben erhalten. Ich könnte deinen Tod nicht verwinden. Wir beide müssen untertauchen, jeder auf seine Weise, auf seinem Weg. Wenn wir es nicht zulassen, dass unsere Körper heute erneut ineinander aufgehen, werden wir es morgen oder in einem anderen Leben wirklich bereuen.«
    Er dachte, warum spricht sie von morgen oder von einem anderen Leben. Hat sie denn vergessen, dass er die Zeit seit langem festgenagelt und an weit entfernter Stelle aufgehängt hat, seit sich die Gegenwart in ein Folterfest verwandelt, seit er vergessen hat, welchen Namen er tragen muss, unter welchem Namen er sterben oder ermordet wird. Er stand immer im Abseits seiner selbst, war ohne seinen Namen, aber niemand außer ihm war sich dessen bewusst. Ob an der Front oder in der Folterkammer, ja selbst im Irrenhaus, er war nie mit ihnen zusammen. Auch als er flüchtete und von einer Stadt in die andere zog, sich einen Namen nach dem anderen zulegte, hatte er keine Angst, sie könnten erneut kommen oder ihn töten. Jetzt aber drang ihre flehende Stimme an sein Ohr, vertraut und fremd zugleich, wie die des Stimmenbesitzers, der ihn vor dem Schlagen der Stunde warnt und ruft: Der Mörder muss seine Schulden begleichen!
    »Ich sage dir zum letzten Mal: lass uns ins Schlafzimmer gehen. Oder willst du hier im Salon versauern? Ich habe dir meinen ganzen Körper dargebracht, hast du das vergessen? Du kennst ihn, kennst jede Pore, alle seine Kurven. Du kennst all seine verborgenen Winkel, alle Falten und Furchen. Du weißt, wie du ihn vor Lust aufschreien, von Wasser triefen lassen kannst. Ich werde die Dürre meines Geschlechts vergessen machen. So komm doch, um Gottes Willen! Glaub mir, ich tu das nicht aus Enttäuschung oder um an irgendjemandem Rache zu nehmen. Ich tu es nur für

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