Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
Vom Netzwerk:
Gorky, Cornell und Kitaji, die wir für unter einem Dollar bekamen.
    Am kostbarsten waren uns aber die Bücher von William Blake. Ich hatte ein sehr hübsches Faksimile von Lieder der Unschuld und der Erfahrung, und ich las Robert vor dem Einschlafen oft daraus vor. Ich hatte außerdem eine in Pergament gebundene Ausgabe von Blakes gesammelten Schriften und die Trianon-Press-Ausgabe von Blakes Milton. Wir bewunderten beide das Porträt von Blakes jung verstorbenem Bruder Robert, der mit einem Stern zu seinen Füßen abgebildet war. Wir machten uns Blakes Palette zu eigen, Schattierungen von Rosa, Kadmium und Moos, Farben, die ihr eigenes Licht zu verströmen schienen.
    An einem Abend im späten November kam Robert ziemlich mitgenommen nach Hause. Bei Brentano standen einige Radierungen zum Verkauf. Darunter war auch ein Druck von einer Originalplatte aus Amerika: Eine Prophezeiung, mit einem Wasserzeichen von Blakes Monogramm versehen. Er hatte ihn aus der Mappe genommen und in sein Hosenbein geschoben. Aber Robert war nicht zum Dieb geeignet; sein Nervenkostüm machte das gar nicht mit. Er hatte es aus einem Impuls heraus getan, weil wir beide Blake so liebten. Doch gegen Ende des Tages verlor er die Nerven.
    Er hatte das Gefühl, sie wären ihm auf der Spur, darumverschwand er auf der Toilette, nahm das Bild aus seiner Hose und spülte es, in tausend kleine Stücke zerrissen, ins Klo.
    Ich sah, wie seine Hände zitterten, als er mir davon erzählte. Es hatte geregnet, und die Tropfen rannen aus seinen dicken Locken. Er hatte ein weißes Hemd an, das feucht und durchgeweicht an seinem Oberkörper klebte. Robert war, wie Jean Genet, ein furchtbar schlechter Dieb. Genet wurde erwischt und kam ins Gefängnis, weil er seltene Proust-Ausgaben und rollenweise Seide von einem Hemdenmacher gestohlen hatte. Wenn Ästheten zu Dieben werden. Ich stellte mir Roberts Entsetzen und Triumphgefühl vor, als er zusah, wie Schnipsel von Blake in die Kloake von New York City gewirbelt wurden. Wir fassten uns an beiden Händen und ließen einander nicht los. Wir atmeten einmal tief durch und standen zu unserer Komplizenschaft, zwar nicht beim Diebstahl, aber bei der Zerstörung eines Kunstwerks.
    »Zumindest werden sie es nie in die Finger bekommen«, sagte er.
    »Wer sind ›sie‹?«, fragte ich.
    »Alle außer uns«, antwortete er.
    Robert wurde bei Brentano entlassen. Er verbrachte seine arbeitslosen Tage mit der ständigen Umgestaltung unserer Wohnräume. Als er die Küche strich, war ich so glücklich, dass ich uns ein ganz besonderes Essen zubereitete. Ich machte Couscous mit Rosinen und Sardellen, und meine Spezialität: Kopfsalatsuppe. Diese Delikatesse bestand aus Hühnerbouillon, angerichtet mit Kopfsalatblättern.
    Aber kurz nach Roberts Entlassung wurde ich ebenfalls gefeuert. Ich hatte versäumt, einem chinesischen Kunden die Steuer auf einen sehr teuren Buddha zu berechnen.
    »Warum soll ich die Steuer zahlen?«, hatte er gesagt. »Ich bin kein Amerikaner.«
    Darauf fiel mir nichts ein, darum berechnete ich sie nicht. Diese Fehleinschätzung kostete mich meinen Job, aber es tat mir nicht leid darum. Das Beste an dem Laden war die persische Halskette gewesen und Robert kennenzulernen, der sein Wort gehalten unddie Kette nie einem anderen Mädchen geschenkt hatte. In unserer ersten gemeinsamen Nacht in der Hall Street überreichte er mir die geliebte Kette, eingeschlagen in violettes Seidenpapier und mit einer schwarzen Satinschleife zugebunden.

    Über die Jahre wanderte die Halskette immer zwischen uns hin und her. Wer sie besitzen durfte, richtete sich danach, wer sie am dringendsten brauchte. Unser Sinn für Geheimzeichen manifestierte sich in vielen kleinen Ritualen. Eines der ehernsten hieß Tag eins – Tag zwei. Es bestand eigentlich nur darin, dass immer einer von uns fit sein musste, er war als Beschützer »dran«. Wenn Robert Drogen nahm, musste ich hellwach und präsent sein. Wenn es mir schlecht ging, musste es Robert gut gehen. Wenn einer krank war, war der andere gesund. Es war wichtig, dass wir uns nie beide am selben Tag hängen ließen.
    Anfangs war ich krisenanfällig, und er war immer mit einer Umarmung oder aufmunternden Worten für mich da, lockte mich mit sanfter Gewalt aus meinem Tief heraus und an meine Arbeit. Aber er wusste auch da schon, dass er sich genauso auf mich verlassen konnte, wenn ich die Starke sein musste. Robert fand eine Vollzeitstelle als Schaufensterdekorateur bei FAO Schwarz.

Weitere Kostenlose Bücher