Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
Vom Netzwerk:
Ich muss rausfinden, wer ich wirklich bin.«
    Das Einzige, was mir zu San Francisco einfiel, war das große Erdbeben und Haight-Ashbury. »Ich bin frei«, sagte ich.
    Er starrte mich voller Verzweiflung an. »Wenn du nicht mitkommst, werde ich mit einem Mann zusammen sein. Dann werde ich homosexuell«, drohte er mir.
    Ich sah ihn nur an und verstand überhaupt nichts. Nichts an unserer Beziehung hatte mich auf so eine Enthüllung vorbereitet. In all den indirekten Zeichen, die er mir gegeben hatte, hatte ich eine künstlerische Entwicklung gesehen, keine Persönlichkeitsentwicklung.
    Ich zeigte wenig Mitgefühl für ihn, was ich später bedauerte. Seine Augen sahen aus, als hätte er die ganze Nacht auf Speed gearbeitet. Er reichte mir wortlos einen Briefumschlag.
    Ich sah ihm nach, als er ging und in der Menschenmenge verschwand.
    Das Erste, was mich stutzig machte, war, dass er seinen Brief auf Scribner-Papier geschrieben hatte. Seine sonst so kontrollierte Handschrift spiegelte etwas von seiner inneren Zerrissenheit wider; sie schwankte zwischen sauber und präzise und kindlichem Gekrakel. Aber was mich zutiefst berührte, noch ehe ich las, was er geschrieben hatte, war die ungekünstelte Überschrift: »Patti – Was ich denke – Robert.« Ich hatte ihn, bevor ich ihn verlassen hatte, so oft gebeten, bekniet, mir zu sagen, was in ihm vorging, worüber er sich Gedanken machte. Er hatte keine Worte für mich gehabt.
    Als ich die Seiten überflog, wurde mir bewusst, dass er ganz tief in sich gegangen war, um mir das Unsagbare sagen zu können. Als ich mir die seelischen Qualen vorstellte, die ihn getrieben hatten, diesen Brief zu schreiben, kamen mir die Tränen.
    »Ich stoße Türen auf, ich schlage Türen zu«, schrieb er. Er liebte niemanden, er liebte alle. Er liebte Sex, er hasste Sex. Das Leben ist eine Lüge, Wahrheit ist eine Lüge. Seine Gedanken schlossen mit einer heilenden Wunde. »Ich stehe nackt da, wenn ich zeichne. Gott hält meine Hand, und wir singen gemeinsam.« Sein künstlerisches Manifest.
    Ich beschloss, den Beichtcharakter des Briefs unter den Tisch fallen zu lassen, und empfing diese Worte wie meine Hostie. Er hatte eine Kette von Worten nach mir ausgeworfen, die mich verlockten und uns für immer aneinanderbanden. Ich faltete den Brief und steckte ihn in den Umschlag zurück, ohne zu wissen, wie es weitergehen würde.

    Überall an den Wänden hingen meine Zeichnungen. Ich eiferte Frida Kahlo nach und zeichnete eine Reihe von Selbstporträts, jedes davon mit einem lyrischen Fragment versehen, das meinen zersplitterten Gefühlshaushalt wiedergab. Ich stellte mir vor, wie sie gelitten hatte, und wie unbedeutend meine eigenenSchmerzen dagegen waren. Als ich an einem Abend die Treppe zu unserer Wohnung hinaufstieg, kam Janet mir auf halbem Weg entgegen. »Wir sind ausgeraubt worden«, weinte sie. Ich folgte ihr nach oben. Ich sagte mir, dass wir nicht viel besaßen, das für Einbrecher interessant sein könnte. Ich ging in mein Zimmer. Die Diebe waren sauer gewesen, weil bei uns nichts Verkäufliches zu finden gewesen war, und hatten die meisten meiner Zeichnungen von der Wand gerissen, und die wenigen heil gebliebenen waren voller Matsch und Stiefelabdrücken.
    Janet war so geschockt, dass sie es besser fand, die Wohnung aufzugeben und zu ihrem Freund zu ziehen. Alles östlich der Avenue A im East Village war immer noch Gefahrenzone, und weil ich Robert versprochen hatte, dort nicht allein zu leben, zog ich zurück nach Brooklyn. Ich fand eine Zweizimmerwohnung auf der Clinton Avenue, einen Block entfernt von dem Hauseingang, in dem ich den Sommer zuvor geschlafen hatte. Ich hängte die überlebenden Zeichnungen an die Wand. Dann ging ich, einem Impuls folgend, zu Jake’s Malerbedarf und kaufte ein paar Ölfarben, Pinsel und Leinwände. Ich beschloss zu malen.
    Ich hatte Howie beim Malen zugesehen, wenn ich bei ihm war. Seine Arbeitsweise war physisch und abstrakt, ganz anders als bei Robert, was mich an meine eigenen jugendlichen Ambitionen erinnerte, und plötzlich packte mich der Wunsch, selbst den Pinsel in die Hand zu nehmen. Ich schnappte mir meine Kamera und ging damit ins MoMA, auf der Suche nach Inspiration. Ich machte eine Reihe Schwarz-Weiß-Aufnahmen von de Koonings Woman I und ließ sie entwickeln. Dann pinnte ich die fertigen Abzüge an die Wand und begann zu malen. Ich fand es lustig, das Porträt eines Porträts zu machen.
    Robert war immer noch in San Francisco. Er hatte

Weitere Kostenlose Bücher