Just Kids
Sommer eines Jahrzehnts. Manchmal wollte ich einfach beide Hände heben und alles anhalten. Aber was anhalten? Vielleicht nur das Erwachsenwerden.
Der Mond war auf der Titelseite des Life- Magazins, aber die Schlagzeilen der Tageszeitungen berichteten von den brutalen Morden an Sharon Tate und ihren Freunden. Die Manson-Morde wollten zu keiner meiner Film-noir-Vorstellungen passen, die ich vom Verbrechen hatte, aber es war die Art von Nachricht, an der sich die Fantasie der Hotelbewohner entzündete. Praktisch allewaren von Charles Manson wie besessen. Anfangs ging Robert mit Harry und Peggy jedes kleinste Detail durch, doch ich konnte es nicht ertragen, darüber zu reden. Die letzten Momente im Leben von Sharon Tate verfolgten mich, ich stellte mir ihr Entsetzen vor bei der Gewissheit, dass sie ihr ungeborenes Kind abschlachten würden. Der Gedanke an Brian Jones, der mit dem Gesicht nach unten im Pool trieb, war das Höchstmaß an Tragik, das ich ertragen konnte.
Robert faszinierten menschliche Verhaltensmuster, das, was scheinbar normale Menschen dazu bringen konnte, Gräueltaten zu begehen. Er verfolgte den Manson-Fall weiter, doch sein Interesse nahm ab, je bizarrer Manson sich verhielt. Als Matthew ihm ein Zeitungsfoto zeigte, auf dem Manson sich ein X in die Stirn geschnitten hatte, klaute Robert das X für eine seiner Zeichnungen.
»Das X interessiert mich«, erklärte er Matthew, »aber Manson nicht. Er ist wahnsinnig. Wahnsinn interessiert mich nicht.«
Ein oder zwei Wochen später kam ich auf der Suche nach Harry und Peggy ins El Quixote. Das war ein Bar-Restaurant neben dem Hotel, das durch eine Tür mit der Lobby verbunden war, deshalb betrachteten wir es als unsere Bar, das war schon seit Jahrzehnten so gewesen. Dylan Thomas, Terry Southern, Eugene O’Neill und Thomas Wolfe sind nur einige von vielen, die dort einen über den Durst getrunken haben.
Ich trug ein langes marineblaues Kleid aus Kunstseide mit Polka-dots und einen Strohhut, mein Jenseits-von-Eden- Outfit. Am Tisch zu meiner Linken hielt Janis Joplin mit ihrer Band Hof. Ganz rechts saßen Grace Slick und andere Mitglieder von Jefferson Airplane zusammen mit Leuten von Country Joe and the Fish. Am letzten Tisch gegenüber der Tür saß Jimi Hendrix mit einer Blondine und aß mit gesenktem Kopf – den Hut hatte er aufbehalten. Überall Musiker, sie saßen vor Tischen mit Bergen von Shrimps mit grüner Sauce, Paella, Krügen mit Sangria und flaschenweise Tequila.
Ich sah mich erstaunt um, kam mir aber nicht fehl am Platz vor. Das Chelsea war mein Zuhause und das El Quixote meine Bar. Es gab keine Türsteher, keine Überheblichkeit, keine Rangordnung. Sie waren alle wegen des Woodstock Festivals hier, aber ich lebte so abgeschottet in meinem Hoteluniversum, dass ich von dem Festival oder seinem Stellenwert gar nichts mitbekommen hatte.
Grace Slick stand auf und schob sich an mir vorbei. Sie trug ein bodenlanges Batikkleid und hatte dunkle veilchenblaue Augen wie Liz Taylor.
»Hallo«, sagte ich und registrierte, dass ich die Größere war.
»Hallo selber«, antwortete sie.
Als ich wieder nach oben ging, fühlte ich mich diesen Leuten irgendwie verwandt, obwohl ich dieses Vorgefühl nicht zu interpretieren wusste. Ich hätte nie vorausgesehen, dass ich eines Tages denselben Weg wie sie gehen würde. Damals war ich immer noch eine schlaksige zweiundzwanzigjährige Buchverkäuferin, die an mehreren halb fertigen Gedichten gleichzeitig herumbastelte.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf, weil mir unendlich viele Zukunftsaussichten durch den Kopf schwirrten. Ich starrte an die Stuckdecke, wie ich es schon als Kind getan hatte. Mir kam es vor, als glitten die pulsierenden Muster über mir langsam an ihren Platz.
Das Mandala meines Lebens.
Mr Bard gab uns unser Faustpfand zurück. Als ich unsere Tür aufschloss, sah ich die Mappen an der Flurwand lehnen, die schwarze mit den schwarzen Schleifen und die rote mit den grauen. Ich schnürte beide auf und sah nach, ob alle Zeichnungen da waren. Ich war mir nicht mal sicher, ob Bard sich die Bilder überhaupt angesehen hatte. Falls ja, dann bestimmt nicht mit meinen Augen. Jede Zeichnung, jede Collage überzeugte mich erneut, dass wir etwas konnten. Die Arbeiten waren gut. Wir hatten es verdient, hier zu sein.
Robert war frustriert, dass Bard unsere Kunst nicht in Zahlung nahm. Er machte sich Sorgen, dass wir nicht über die Runden kommen würden, weil gerade an diesem Nachmittag beide
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