Just Listen - Roman
gegangen war (wobei vorher, wie jeden Abend, mindestens dreimal nachgeschaut worden war, ob Whitney sich auch hübsch brav und sicher in ihrem Zimmer befand), ging ich nach unten, um mir ein Glas Wasser zu holen. Mein Vater saß im Wintergarten hinter der Küche. Der Fernseher lief, die Füße hatte er auf einen Hocker gelegt. Als ich das Licht anknipste, drehte er sich zu mir um.
»Du kommst genau richtig. Gerade fängt eine tolle Dokumentation über Christoph Columbus an.«
»Aha.« Ich nahm mir ein Glas aus dem Schrank.
»Faszinierend. Möchtest du dir das nicht mit mir zusammen anschauen? Vielleicht lernst du ja noch etwas Neues.«
Mein Vater fuhr voll auf Geschichtssendungen ab. »Es geht immerhin um die Geschichte unseres Planeten!«, pflegte er zu sagen, wenn wir anderen uns darüber beschwerten, dass wir uns schon wieder eine Sendung über das Dritte Reich, den Fall der Berliner Mauer oder die Pyramiden von Gizeh anschauen mussten. Wenn wir alle zusammen fernsahen, gab er normalerweise nach beziehungsweise wurde überstimmt und gezwungen, sich einen Modesender, Schöner-Wohnen-TV oder nicht enden wollende Reality-Shows reinzuziehen. Aber am späteren Abend hockte er in der Regel allein vor dem T V-Gerät und wurde entsprechend zum Herrn der Fernbedienung. Wobei er sich allerdings immer freute, wenn jemand auftauchte und seine Lieblingssendungen mit anschaute, so als wäre Geschichte noch besser, wenn man sie mit jemandem teilen konnte.
Bei diesem Jemand handelte es sich normalerweise um mich. Meine Mutter ging immer sehr früh schlafen, Whitneyverkündete regelmäßig, sie finde Geschichte sterbenslangweilig, und Kirsten quatschte zu viel dazwischen, egal, was lief. Aber mein Vater und ich bildeten ein gutes Team. Deshalb saßen wir nachts oft zusammen vor dem Fernseher, während sich die Geschichte der Menschheit vor uns entfaltete. Auch wenn er die Sendung bereits gesehen hatte, blieb mein Vater aufmerksam. Interessiert. Nickte. Gab gelegentlich ein »Hmmm« oder »Was Sie nicht sagen« von sich – als ob der Erzähler ihn nicht nur hören konnte, sondern sein Feedback bräuchte, um fortzufahren.
In den letzten Monaten hatte ich jedoch nicht mehr mit ihm ferngesehen. Ich wusste nicht einmal genau, warum nicht. Doch jedes Mal, wenn er es vorschlug, war ich plötzlich todmüde. Zu müde, um aufzunehmen und zu verarbeiten, was auf der Welt geschah, sogar, wenn es längst vergangen war. Die Last der Geschichte, der Vergangenheit kam mir vor wie Blei, schwer, erdrückend. Zurückzublicken kostete mich einfach zu viel Kraft; zumindest hatte ich das Gefühl, es wäre so.
»Nein, danke«, erwiderte ich daher. »Ich hatte einen anstrengenden Tag und bin ziemlich müde.«
»Na gut.« Er lehnte sich zurück und griff nach der Fernbedienung. »Ein andermal.«
»Klar. Bestimmt.«
Ich nahm mein Wasserglas und ging damit zu seinem Sessel. Er drehte den Kopf, damit ich ihm einen Gutenachtkuss geben konnte. Ich küsste ihn auf die Wange; er lächelte, bevor er den Lautstärkeregler betätigte und die Stimme des Moderators in meinem Rücken lauter wurde, während ich den Raum verließ.
»Im fünfzehnten Jahrhundert strebten die Entdecker der Erde beständig nach …«
Als ich schon halb die Treppe rauf war, blieb ich stehen. Trank einen Schluck Wasser, drehte mich noch einmal zu meinem Vater um. Die Fernbedienung lag auf seinem Bauch, das Licht des Fernsehers flackerte über sein Gesicht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich jetzt zurückginge, zu ihm, zu meinem Platz auf dem Sofa. Aber ich schaffte es nicht. Ließ ihn mit der sich wiederholenden Geschichte allein, mutterseelenallein mit den Ereignissen der Vergangenheit, die aufs Neue erzählt wurden. Wieder und wieder und noch einmal.
Kapitel 7
Das gesamte Wochenende über fragte ich mich, was passieren würde, wenn ich Owen das nächste Mal in der Schule traf. Ob sich nach dem, was Freitag gewesen war, etwas zwischen uns ändern würde. Oder ob wir wieder in unser Schweigen verfallen und den Abstand voneinander wahren würden, als wäre nichts geschehen. Doch ein paar Minuten nachdem er sich auf die Mauer gesetzt hatte, traf er die Entscheidung. Für uns beide.
»Und, hast du sie gehört?«
Ich legte mein Sandwich weg, wandte mich ihm zu. Er saß auf seinem üblichen Platz, trug Jeans sowie einen schwarzen Pulli mit rundem Ausschnitt. Das iPod war natürlich dabei, die Kopfhörer baumelten um Owens Hals.
»Deine
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