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Justice (German Edition)

Justice (German Edition)

Titel: Justice (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Fermer
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Anzug machte Milan ein paar Schritte zurück und schaute an dem weißen Hochhaus hinauf. Im sechsten Stock waren die Vorhänge nur halb zugezogen. Dahinter leuchtete das grelle Licht der Deckenlampe. Auf der anderen Seite des Raumes konnte Milan sogar eine Ecke des großen Landschaftsgemäldes an der Wand ausmachen. Ansonsten gab es keinerlei Lebenszeichen.
    Seltsam, dachte Milan. Vielleicht war Werner nur kurz zum Kiosk gegangen, um sich Zigaretten zu holen. Oder er war beim Fernsehen eingeschlafen. Milan nahm sein Handy aus der Hosentasche und wollte gerade seinen Großvater anrufen, als er einen Schatten hinter dem Vorhang erblickte. Er ließ das Telefon zuschnappen. Die Umrisse eines Mannes, der mit dem Rücken zum Fenster stand, waren zu sehen.
    Der Besucher gestikulierte wild, riss seine Arme nach oben und bewegte den Kopf, als ob er mit großer Aufregung redete. Dann stampfte er vom Fenster weg und verschwand aus Milans Sicht. Es war nur ein flüchtiger Blick und Milan konnte den Mann nicht erkennen. Ein unheimliches Gefühl kroch in ihm hoch. Was machte ein Fremder in Werners neuer Wohnung?
    Kurz darauf verließ eine alte Dame mit ihrem Pudel das Wohnhaus. Während die Tür hinter ihr langsam zuschwang, sprang Milan an ihr vorbei und flitzte durch den Eingang. Mit rasendem Herzen betrat er den Aufzug und fuhr hoch.
    Im sechsten Stock klingelte er an der Wohnungstür seines Großvaters. Seine Finger zitterten. Er presste sein Ohr an die Tür und horchte angestrengt. Von drinnen war nichts zu hören.
    »Opa! Ich weiß, dass du da bist!«, rief er aus vollem Hals und schlug mit der Faust gegen die Tür. Er klingelte noch einmal, länger, unaufhörlich, bis sein Großvater endlich die Tür öffnete.
    »Was machst du denn für einen Lärm?«, schimpfte Werner genervt. »Du weckst das ganze Haus auf.«
    Milan atmete schwer. »Warum hast du nicht aufgemacht?«
    Sein Großvater blieb im Türrahmen stehen und ließ die Finger durch seine feinen weißen Haare gleiten. »Ich habe geschlafen«, gähnte er.
    Milan schüttelte verwirrt den Kopf. Weder sah sein Großvater verschlafen aus noch hätte er so lange Milans penetrantes Klingeln überhören können.
    »Aber du hast doch Besuch«, sagte er.
    »Wovon redest du? Ich bin allein.«
    Milan versuchte, seinem Großvater über die Schulter zu schauen. »Das stimmt nicht. Ich habe ihn am Fenster gesehen. Wer ist das?«
    Werner machte den Mund auf, um Milan zu antworten, aber der Junge reagierte schneller. »Darf ich rein?«, fragte er und versuchte sich in die Wohnung zu drängen.
    Werner versperrte ihm den Weg. »Was willst du hier?«
    »Ich wollte mit dir reden. Dann habe ich den fremden Mann gesehen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Was ist los?«
    Wieder versuchte er einen Blick in die Wohnung zu werfen, aber er konnte nur bis zur geschlossenen Wohnzimmertür sehen.
    »Es ist alles gut, Milan. Du kannst nach Hause gehen. Wir reden ein anderes Mal.«
    »Warum lässt du mich nicht rein?«
    »Weil ich gerade keine Zeit für dich habe.«
    »Ich gehe nur, wenn du mir sagst, wer der Mann am Fenster ist.«
    Werner seufzte resigniert und senkte den Kopf. Milan nutzte die Gelegenheit, um nochmals zu versuchen, an seinem Großvater vorbeizukommen. Diesmal leistete Werner keinen Widerstand.
    Milan betrat den düsteren Wohnungsflur und ließ Werner an der Türschwelle stehen. Als er die Wohnzimmertür öffnete, erstarrte er, als wäre das Blut in seinen Adern gefroren. Der geheimnisvolle Besucher stand noch immer am Fenster, diesmal mit dem Rücken zu Milan. Er schaute in die Nacht hinaus, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. An seinen Fingerspitzen haftete ein kleiner gelber Zettel mit einer handschriftlichen Notiz darauf. Seine grauen stoppeligen Haare, seine breiten Schultern und seine aufrechte Haltung waren unverkennbar.
    »Herr Stein?« Milan schnappte nach Luft.
    Stein senkte den Kopf, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er faltete seine Hände auseinander, steckte den gelben Zettel in seine rechte Hosentasche und drehte sich langsam um.
    »Hallo, Milan«, sagte er sanft und setzte ein müdes Lächeln auf. »Wie war die Hochzeit?«
    Milan merkte, wie seine Kehle trocken wurde. »Die Hochzeit?«, stammelte er und starrte seinen Geschichtslehrer sprachlos an. Er suchte verzweifelt nach Worten. »Ich verstehe nicht ... Was – was machen Sie denn hier?«
    Stein trat einen Schritt auf seinen Schüler zu und sagte wie selbstverständlich: »Dein Großvater und ich

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