Justice (German Edition)
unberührt. Herr Stein hatte keinen Tropfen zu sich genommen.
»Habt ihr euch gestritten?«, fragte Milan, der sich an die wilden Gesten seines Geschichtslehrers am Wohnungsfenster erinnerte.
»Nein, gestritten nicht«, wiegelte Milans Großvater ab und schenkte sich noch Whisky nach. »Also nicht wirklich. Weißt du, es ging um eine alte Bekannte. Eine Frau. Kurt – ich meine, dein Herr Stein hier –, er wollte sie wiederfinden. Er kam zu mir, weil er dachte, dass ich ihm dabei helfen könnte.«
Milan zog die Stirn in Falten. »Von draußen sah es wie ein Streit aus. Was war denn? Wolltest du ihm nicht helfen?«
»Du kennst mich doch«, sagte Werner und zitierte sich selbst: »Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Das ist meine Devise. Ich habe ihm gesagt, er soll das lassen.«
»Wer war die Frau denn?«, wollte Milan wissen.
Werner lehnte sich auf dem Sofa zurück und winkte ab. »Ach, irgendeine Frau! Ich glaube, Kurt hatte damals etwas mit ihr, aber ich weiß es nicht genau.« Er lachte wieder. »Eigentlich blöd von mir, nicht wahr? Es ist für einen Witwer doch keine Schande, in späten Jahren seine alte Flamme aufzuspüren, oder?«
»Herr Stein ist Witwer?«, fragte Milan überrascht.
Werner wurde stutzig. »Ja. Wusstest du das nicht?«
Im Grunde genommen kannte Milan seinen Geschichtslehrer kaum. Er wusste nicht mal, wo er wohnte. Für ihn bestand Steins Leben nur aus der Schule und dem Drachenboottraining, sonst nichts. Der Mann trank viel Kaffee, war belesen und informiert, hatte offenbar keine Kinder. Das war alles. Herr Steins Kurzbiografie. Über mehr Kenntnisse verfügte Milan nicht. Der Geschichtslehrer sprach nie über sein Privatleben. Milan wusste nur, dass Stein allein lebte und früher einmal verheiratet war. Er hatte immer angenommen, dass die Ehe einfach auseinandergegangen war, nicht, dass seine Frau gestorben und Stein ein Witwer war. Das erklärte vielleicht, warum er oft so distanziert wirkte.
»Ich weiß nichts über ihn«, gab Milan zu. »Aber ich würde gerne mehr wissen.«
Werner lachte und sein Gesicht erhellte sich. »Na ja! Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich die Geheimnisse deines verehrten Lehrers verraten soll.«
Er schmunzelte wie ein frecher Junge und trank sein Glas auf Ex. Dann packte er aus: »Na ja, warum nicht? Ich weiß auch nicht alles über ihn. Nur ein paar Fakten. Zum Beispiel, dass seine Eltern in den 50er-Jahren von Deutschland nach Südafrika ausgewandert sind.« Er rutschte auf dem Sofa nach vorne. »Sein Vater war lutherischer Pfarrer, seine Mutter Volksschullehrerin. Sie lebten im Natal. Kurt kam erst Ende der 70er nach Beendigung seines Studiums nach Kapstadt. Er bekam eine Stelle an der deutschen Schule ...«
Milan unterbrach seinen Großvater überrascht. »Ich dachte, Herr Stein war erst seit dem Ende der Apartheid an der Schule?«
Werner schüttelte den Kopf und lächelte bitter. »Nein, nein. Er fing vor über dreißig Jahren an, aber sein Aufenthalt dort wurde vorzeitig abgebrochen. Dazu komme ich gleich.«
Werner nahm die Whiskyflasche in die Hand und goss sich nach. Er geriet offenbar in Erzähllaune. Die Flasche war fast leer und Werner eindeutig betrunken. Sein Redefluss wurde immer langsamer, seine Bewegungen immer schwerfälliger.
»So habe ich ihn jedenfalls kennengelernt«, fuhr er fort. »Als jungen Lehrer bei einer Weihnachtsfeier in der deutschen Gemeinde. Du hättest ihn damals sehen sollen. Er war ein gut aussehender Bursche. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Sie schwirrten um ihn herum wie die Motten ums Licht. Aber die Damen kriegten ihn nicht. Nein. Er verliebte sich in eine Frau aus einer ganz anderen Ecke. Und zwar aus Heideveld. Sie war coloured . Dorothy hieß sie, das weiß ich noch. Es war natürlich ein Skandal. Und auch illegal, wie du ja weißt. Mit einer Farbigen, das ging gar nicht. Die beiden wurden erwischt. Jemand verriet sie bei der Polizei. Sie kamen ins Gefängnis, er nur für ein paar Wochen, sie für länger. Unmittelbar danach verlor Kurt seinen Job an der deutschen Schule. Selbstverständlich. Stand gar nicht zur Debatte. Was aus der Frau aus Heideveld wurde, weiß ich nicht. Ich habe später erfahren, dass Stein nach einigen Jahren eine andere Frau geheiratet hat. Eine Weiße. Professorin an der Universität. Eine gute Partie. Eine kluge Frau. Aktivistin. Sie starb ’93.«
»Woran ist sie gestorben?«, fragte Milan interessiert.
Werner senkte betroffen den Blick. »Sie wurde
Weitere Kostenlose Bücher