Justice (German Edition)
gemacht. Im Nebenraum kämpfte ein schwer verletzter Mann um sein Leben. Jedoch handelte es sich nicht um irgendeinen Mann, sondern um den Apartheid-Killer. Herr Stein war derjenige, der bereits ein Dutzend Menschen ermordet hatte, kaltblütig, ohne Gnade. Der Mann, der seit Monaten von der Polizei gesucht wurde. Der Mann, der eine ganze Nation in Atem hielt. Milan konnte es immer noch kaum glauben, dass Stein so viele Menschen umgebracht hatte. Es war schrecklich und faszinierend zugleich. Doch er hatte nicht vor, Stein zu verraten. Nicht ohne die ganze Wahrheit zu kennen.
Auf einmal merkte der Junge, dass sein Magen knurrte. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und ihm wurde regelrecht schwindelig. Er schaute in den Kühlschrank und machte sich ein Sandwich. Als er fertig war, nahm er den Teller mit ins Wohnzimmer, wo er sich an den Esstisch setzte. Er warf einen Blick auf Herrn Stein. Er war bereits im Tiefschlaf, sein Mund stand weit offen, sein Kopf war nach hinten gesackt, seine blasse Hand lag oben auf der Decke.
Während Milan sein Sandwich aß, betrachtete er die Bücher im Regal. Auch hier hatte alles seinen Platz. Der Abschnitt direkt vor ihm war den deutschen Philosophen gewidmet. Adorno, Engels, Heidegger, Kant, Nietzsche. Auch einige, von denen Milan noch nie gehört hatte. Daneben befanden sich Bücher wie Steve Bikos Ich schreibe, was mir passt; Der lange Weg zur Freiheit, die Autobiografie, die Nelson Mandela in Gefangenschaft auf Robben Island geschrieben hatte, und die Bücher von Desmond Tutu wie Gott hat einen Traum und Meine afrikanischen Gebete . Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Malcolm X gehörten auch in diese Abteilung.
Milan nahm das Buch von Steve Biko aus dem Regal. Er schlug es auf und sah, dass einige Zeilen mit Bleistift unterstrichen waren. Er las die erste Passage: »Es ist besser, für eine Idee zu sterben, als für eine Idee zu leben, die sterben wird.«
Milan senkte das Buch und rief sich das Schicksal des schwarzen Bürgerrechtlers in Erinnerung. Steve Biko wurde damals von der Polizei aufgegriffen und so heftig gefoltert, dass er ’77 in seiner Gefängniszelle starb. Obwohl der damalige Justizminister behauptet hatte, Biko sei infolge eines Hungerstreiks gestorben, wurden die Umstände seines Todes von der Presse aufgedeckt. Die Geschichte sorgte für internationale Empörung. Später, nach dem Ende der Apartheid, kamen die fünf Polizisten, die für Bikos Tod verantwortlich waren, vor Gericht. Aber sie wurden nicht verurteilt. Aus Mangel an Beweisen. Kein Wunder, denn der Prozess fand erst fünfundzwanzig Jahre später statt.
Waren es Schicksale wie das von Steve Biko, die Herrn Stein zu seinen grausamen Taten motiviert hatten?
Milan legte das Buch weg und schaute die Pistole an, die neben ihm auf dem Tisch lag. Mit dieser Waffe hatte Herr Stein bereits zwölf Menschen getötet. Ein weiteres Opfer war ihm heute durch die Lappen gegangen. Die Schrift auf dem kurzen Pistolenlauf verriet die Marke. Milan hatte von ihr bereits gehört. Er nahm die Waffe auf, sie passte genau in seine Handfläche. Jede Rundung des gewölbten Handgriffes traf die Linie seiner Finger, als hätte er selbst die Gussform dafür gestaltet. Milan hielt die Waffe hoch und legte seinen Zeigefinger an den Abzug. Er machte ein Auge zu und schaute den Lauf entlang. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt das schmale Stück Metall zurückziehen würde. Aus dem Pistolenlauf würde ein kleines tödliches Objekt herausschießen, das einen Menschen umbringen könnte. Eine ungeheure Kraft. Eine erschreckende Kraft. Es durchfuhr Milan eiskalt.
»Lass die Finger davon«, ertönte plötzlich Steins geschwächte Stimme und der Junge drehte sich erschrocken um. Stein musterte Milan mit einem müden Blick. »Leg sie hin.«
Milan folgte der Aufforderung.
»Jetzt geh«, seufzte der Lehrer. »Du musst nach Hause.«
Das letzte Wort kam Stein kaum noch über die Lippen. Seine Augen fielen erneut zu. Sein Kopf kippte nach rechts. Milan machte einen Schritt auf ihn zu und beugte sich vor. Mit dem Ohr an seiner Nase konnte er sein Atmen hören. Dennoch hatte Milan nicht die Absicht, seinen Geschichtslehrer allein zu lassen. Er wartete noch einen Augenblick, dann drehte er sich um und ging ins Schlafzimmer zurück. Dort legte er sich auf Steins Bett und schlief augenblicklich ein.
Milan träumte wirr und angsterfüllt. Immer wieder sah er den Mann mit dem schwarzen Ziegenbart aus dem
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