Justice (German Edition)
Ambassador vor sich. Er drückte Milan die Kehle mit seinen überdimensionalen Händen zu. Mehrmals wachte der Junge in der Nacht auf, schweißgebadet, und kämpfte sich von seinem unsichtbaren Gegner frei. Als er schließlich begriff, dass er allein war, durchfuhr ihn ein Gefühl der Verwirrung und Desorientierung. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Der karge Raum, in dem er lag, jagte ihm Angst ein. Erst als er die karierten Filzpantoffeln auf dem Boden sah, kam es ihm wieder in den Sinn. Allmählich erinnerte er sich an die Vorkommnisse, die nicht nur zu seinem Traum gehörten. Der Flur im Luxushotel. Das verängstigte Zimmermädchen. Der Gast aus Zimmer 427. Seine Waffe. Das Blut.
Bei Tagesanbruch stand Milan auf. In der Nacht hatte er das Piepsen seines Handys nicht gehört. Zeni hatte ihm eine SMS geschickt. Sie machte sich Sorgen um ihn. Sie hatte mehrmals auf seine Mailbox gesprochen. Ein rascher Blick auf seine Uhr sagte Milan, dass es erst sieben war. Zeni würde noch schlafen. Außerdem wollte er sie nicht von Steins Haus aus anrufen. Er beschloss, sich später bei ihr zu melden.
Als Erstes ging er ins Wohnzimmer. Stein schlief noch. Milan vernahm sein schweres Atmen und war erleichtert, dass er die Nacht überstanden hatte. Sein Körper war zusammengekrümmt, der rechte Arm lag unter dem Kopf. Jetzt, bei Tageslicht, konnte Milan sehen, dass die helle Decke mit dunklem, getrocknetem Blut befleckt war.
Der Junge ließ Stein weiterschlafen und ging in die Küche. Er wollte Frühstück machen, damit Stein wieder zu Kräften kommen konnte. Auf der anderen Seite des Küchenfensters war ein kleiner Hinterhof. Hier hatte Herr Stein einen Kräutergarten angelegt. Steinplatten bahnten sich ihren Weg durch die ordentlichen begrünten Reihen. Kletterpflanzen rankten die Außenmauern hoch. Hinter dem Kräutergarten stand ein Stuhl mit einem Klapptisch. Milan stellte sich vor, wie Stein hier die Bücher las, die er in seinem Wohnzimmer aufbewahrte, eine heiße Tasse Kaffee auf dem Klapptisch, die Sonne im Gesicht. Eine kleine Insel in seinem einsamen Leben.
Milan ging in den Hof, schnitt frische Kräuter ab und bereitete Rührei zu. Während der Kaffee kochte, machte er auch Toast, schnitt Tomaten und briet einige Scheiben Speck an. Scheinbar hatte sich das wahrhafte Fest an Gerüchen bis in den Vorderraum ausgebreitet, denn als Milan das überfüllte Frühstückstablett ins Wohnzimmer brachte, war Herr Stein bereits wach.
Er schaute zu, wie Milan das Tablett auf dem Couchtisch abstellte und dampfenden Kaffee aus der Kanne goss.
»Du bist nicht nach Hause gefahren?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Nein. Ich habe hier geschlafen«, bestätigte Milan. »Haben Sie Hunger?«
Milan half Herrn Stein sich aufzusetzen und stützte seinen Rücken mit zwei dicken Kopfkissen ab. Stein hatte offenbar einen Bärenhunger, denn alles, was ihm Milan auf den Teller lud, aß er mit großem Genuss auf, auch wenn er dafür doppelt so lange brauchte wie sein Schüler. Seinen Appetit interpretierte Milan als äußerst positiv. Ein Mensch, der so viel Hunger hatte, starb nicht.
Sie frühstückten schweigend. Das einzige Geräusch war das Klirren des Bestecks auf den Tellern. Beim ersten Schluck Kaffee machte Stein die Augen zu und seufzte genussvoll.
»Das tut gut!«, hauchte er und hielt die Tasse mit beiden Händen fest. Er zitterte.
Als er keine Kraft mehr zum Essen hatte, räumte Milan die Teller zusammen und brachte das schmutzige Geschirr in die Küche. Er machte schnell den Abwasch und betrat kurz darauf wieder das Wohnzimmer. Stein hatte sich flach auf das Sofa gelegt.
Ohne Milan anzuschauen, fragte er: »Wo ist die Waffe?«
Milan warf einen Blick auf den aufgeräumten Esstisch. Die Halbautomatik war nicht mehr da.
»Ich habe sie entsorgt«, log Milan. Der Revolver steckte in seinem Hosenbund.
»Wann denn?«, hakte Stein nach.
»Gestern Abend, ich bin noch einmal zu Mustafa gefahren. Ich habe sie ihm gegeben.«
»Sehr gut.«
Stein seufzte müde. Er warf einen Blick durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Die Sonne blendete ihn. »Fahr jetzt nach Hause. Denk darüber nach, was du tun willst.«
Milan legte die Stirn in Falten. »Wie meinen Sie das?«
»Wenn du die Polizei anrufst, werde ich es dir nicht übel nehmen. Ich gebe dir mein Wort. Ich habe auch nicht vor zu fliehen.«
Milan musste nicht lange überlegen. »Das werde ich nicht tun.«
Stein lachte resigniert auf. »Vielleicht solltest du aber
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