Justice (German Edition)
fehlte. Milan drehte sich zum Schreibtisch und fand es dort: eine hübsche farbige Frau in Krankenschwesteruniform, Anfang zwanzig, eingerahmt neben Steins Schreibblock. Eine Frau, die Milan sofort erkannte, auch wenn sie jetzt deutlich älter und fülliger war. Die Frau aus dem Café in Fish Hoek: Dorothy.
Im Wohnzimmer stöhnte Stein auf und fing an, laut zu husten. Milan legte das Bild wieder auf den Schreibtisch und eilte in den Wohnraum. Stein hielt seine Hand vor den Mund und spuckte Blut. Es sickerte ihm langsam durch die Finger. Bei jeder ruckartigen Bewegung zuckte er vor Schmerz zusammen.
Milan lief in die Küche und holte ein Tuch. Als er wieder zu Stein kam, hatte das Husten aufgehört. Er reichte ihm das Tuch und der geschwächte Mann wischte seinen Mund damit ab. Stein ließ sich erschöpft auf das Sofa zurückfallen. Milan setzte sich auf die Kante des Couchtisches und betrachtete seinen Lehrer besorgt.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mitfühlend.
Stein seufzte und lächelte matt. »Du hast schon genug getan«, hauchte er. Er konnte kaum noch sprechen. Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Bevor du gehst, bring mir bitte eine Decke. Ich bleibe hier liegen.«
Milan nickte, stand auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, aber eine Decke sah er nicht. Zwei Türen gingen vom Wohnzimmer ab. Eine führte in die Küche, wo Milan bereits gewesen war, um das Tuch zu holen. Er ging zur zweiten und machte sie auf. Sie führte in den Flur, der Zugang zu zwei weiteren Zimmern verschaffte. Das erste war das Badezimmer, das zweite ein Schlafzimmer. Es war ein kleiner karger Raum mit einem winzigen Fenster, der Milan stark an eine Gefängniszelle erinnerte. An den Wänden hingen keine Bilder. Ein Bett, ein Kleiderschrank und ein Nachttisch mit Lampe waren die einzigen Möbelstücke. Steins Pantoffeln waren ordentlich vor dem Bett aufgestellt.
Milan nahm die Decke vom Bett und trug sie zurück ins Wohnzimmer. Er legte sie über Herrn Stein und deckte ihn damit zu.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Milan.
Stein quälte sich ein ironisches Lächeln ab. »Wie sehe ich denn aus?«
Milan ersparte ihm die volle Wahrheit. Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, sah Stein alt aus. Sein Gesicht war farblos, als wäre das Blut vollständig aus ihm gewichen, seine Wangen waren eingefallen, seine Augen glasig und sein Blick offenbar unscharf – es hatte den Anschein, als schaute er durch Milan hindurch. Auch seine normalerweise robusten Hände, die oben auf der pastellfarbenen Decke lagen, wirkten auf einmal knochig und gebrechlich.
»Sie haben schon bessere Tage gesehen«, gab Milan zu und fügte ermunternd hinzu: »Mustafa hat gesagt, Sie schaffen es.«
Stein setzte ein bitteres Lächeln auf. »Klar schaffe ich das.« Aber jedes Wort, das über seine Lippen kam, schien ihn übermenschliche Kraft zu kosten. »Ich muss jetzt schlafen. Fahr nach Hause. Ich komme allein zurecht.«
Stein verzog das Gesicht ein letztes Mal vor Schmerzen und machte die Augen wieder zu. Milan wartete noch einen Augenblick, dann erhob er sich und ging in die Küche. Er schloss leise die Tür hinter sich. Wie alle anderen Räume in Steins Haus war auch die Küche klein und makellos sauber. Die Regale an der Wand waren voll mit beschrifteten Glasdosen und Gefäßen, die verschiedene Sorten von Olivenöl und Essig beinhalteten. Die breite Palette an Gewürzen und Feinkostzutaten deutete auf ein lebhaftes Interesse am Kochen hin. Ein Weinregal mit einer großen Sammlung von Weinflaschen stand in einer Ecke. Das Paradies eines Feinschmeckers.
Milan nahm sein Handy aus der Hosentasche und rief seine Mutter an. Er erzählte ihr, dass er mit Zeni unterwegs sei und bei ihr übernachten wollte. Es wäre das erste Mal, dass er in Khayelitsha über Nacht blieb. Zu Milans großer Überraschung zeigte Sabine Julitz keinen Widerstand. Sie richtete Zeni Grüße aus, wünschte ihrem Sohn eine gute Nacht und legte auf.
Seine Pflicht war jetzt getan. Milan holte das Stück Papier aus seiner Hosentasche. Er hatte es in Herrn Steins Manteltasche gefunden. Eine Liste mit Namen. Lionel Kani. John Ngakane. Lily Phango. Oscar Hoyland. Es war die Liste, die die Polizei auf der Leiche im Hotel Ambassador hätte finden sollen. Aber diesmal gab es keine Leiche.
Milan nahm sich einen Augenblick Zeit, um in Ruhe über seine Situation nachzudenken. Er war jetzt ein Mitwisser. Er hatte Stein vor der Polizei in Sicherheit gebracht und sich damit strafbar
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