Justice (German Edition)
Damals konnte er es nicht. Ihm hatte etwas gefehlt. Die Wut vielleicht. Der Zorn. Es war so, wie Herr Stein gesagt hatte: Ohne die Wut zu spüren, kann man niemanden töten. Ohne persönlich betroffen zu sein. Aber jetzt ging es um Milans eigene Mutter. Nun brannte es in Milan und das Feuer stieg ihm bis in den Kopf.
Jetzt war er so weit. Jetzt konnte er töten.
»Du hast es verdient zu sterben«, knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne und Themba riss die Augen panisch auf. Milan presste seinen Finger gegen den Abzug. Sein Herz raste. Es war nicht mehr so schwer, die kleine Bewegung zu Ende zu führen. Den Zeigefinger nach hinten zu ziehen. Ganz leicht. Diesmal würde er es schaffen. Diesmal würde es kein Zurück mehr geben.
Doch plötzlich erklang eine Stimme hinter ihm: »Milan! Hör bitte auf!«
Milan fuhr überrascht herum und richtete seine Waffe auf den unerwarteten Eindringling. Zeni stand im Türrahmen. Sie schaute Milan wie gelähmt an. Neben ihr kauerte Lefu, Thembas elfjähriger Sohn. Milan sah sein schmales engelhaftes Gesicht, seine dünnen Arme und übergroßen Klamotten. Er war ein Kind, unschuldig und vollkommen rein. Mit einem Mal wurde Milan von einem seltsamen Gefühl ergriffen: einer Mischung aus Scham und Entsetzen. Über die Ausweglosigkeit seiner Situation, über den kleinen Jungen vor ihm, über sich selbst. Das Gefühl zerrte an ihm und brachte ihn aus der Fassung.
Konnte er wirklich den Vater dieses unschuldigen Jungen umbringen?
»Lefu! Geh weg von hier!«, rief Themba verzweifelt und richtete sich auf.
Milan drehte sich schwungvoll um und zielte wieder auf den Mann hinter ihm. »Du bleibst da!«, zischte er angespannt.
Themba hielt inne und kniete sich wieder auf den Boden. Er hob besänftigend die Hände. »Milan, bitte. Nicht vor dem Jungen.«
»Papa!«, winselte Thembas Sohn. Mit angsterfüllten Augen starrte er die Schusswaffe in Milans Hand an.
»Es ist alles gut, Lefu«, beruhigte ihn sein Vater. »Geh zu deiner Mutter. Ich komme gleich nach.«
Der Junge machte den Mund auf, um zu widersprechen, aber Zeni drückte ihm sanft in den Rücken. »Geh ins Wohnzimmer, Lefu. Kümmere dich um deine Mutter. Du musst jetzt ganz stark sein. Wir kommen gleich. Alle zusammen. Dein Papa auch. Mach dir keine Sorgen. Danke, dass du mich geholt hast.«
Lefu zögerte noch einen Augenblick, dann verließ er den Raum. Milan hörte, wie er zum Wohnzimmer lief und die Tür hinter sich zumachte. Die besorgte Stimme seiner Mutter war auch leise zu vernehmen. Ansonsten war es totenstill.
Zeni wandte sich wieder ihrem Freund zu. »Was machst du hier, Milan?«, fragte sie gefasst und rührte sich nicht von der Stelle.
Milan zeigte mit seiner Waffe auf Themba. »Frag doch ihn!«
Zeni machte einen Schritt in den Raum hinein. Sie bewegte sich langsam und vorsichtig. »Themba?«, sagte sie einfach.
Themba senkte den Kopf. »Es ist nicht seine Schuld«, murmelte er erschöpft. »Ich verstehe ihn. Ich verstehe ihn sogar sehr gut. Es ist furchtbar. Ganz furchtbar. Seine Mutter ist tot.«
Zeni blieb schlagartig stehen und hob die Hand zum Mund. »O mein Gott! Milan, stimmt das?«
Milan nickte. Die Schmerzen und die Wut stiegen wieder in ihm hoch. Er deutete auf Themba. »Er hat sie umgebracht.«
Milan sah, wie diese Aussage seiner Freundin die Gesichtszüge erstarren ließ. Themba schüttelte energisch den Kopf.
»Ich war es wirklich nicht«, protestierte er. »Ich schwöre es dir.«
Wie im Gerichtssaal hob Milan die Brille mit dem goldenen Rahmen hoch und zeigte sie Zeni.
»Ich habe die hier neben meiner Mutter gefunden. Sie gehört Themba«, sagte Milan ruhig und mit fester Stimme, als würde die Beweislage für sich sprechen. Themba machte den Mund auf, um Einspruch zu erheben, aber Milan redete unbeirrt weiter: »Ein Nachbar hat ihn draußen auf der Straße gesehen. Herr Reynolds. Er hatte die Schüsse gehört und die Polizei alarmiert. Er hat gesehen, wie Themba ins Auto gestiegen ist. Er sei ziemlich schnell abgehauen.«
»Ich hatte Angst«, flüsterte Themba. Seine Stimme bebte.
Milan lachte auf. Es war ein bitteres Lachen, voller Leid und Trostlosigkeit. »Klar hattest du Angst!«, zischte er verächtlich. »Meine Mutter bestimmt auch.«
»Bitte, Milan! Glaub mir! Ich war es nicht«, flehte Themba.
»Wieso soll ich dir das glauben?«
»Weil es die Wahrheit ist.«
Zeni ging noch einen Schritt auf Themba zu. »Themba, du musst uns alles sagen. Alles! Verstehst du? Bitte, sag
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