Justice (German Edition)
ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann. Leichtsinnig hetzte er über die viel befahrenen Straßen und achtete dabei nicht im Geringsten auf die herannahenden Autos. Sie wichen ihm aus, bremsten scharf und hupten wütend, doch die aufgeregten Fahrer waren dem Jungen vollkommen egal. Er hielt keine Sekunde an.
Bei jedem Schritt schlug ihm die Waffe gegen die Hüfte. Sie baumelte noch in seiner Sakkotasche, eine dauernde Erinnerung an das, was er nicht geschafft hatte. Peter Kriel war mit dem Leben davongekommen. Herr Stein hatte recht gehabt. Milan hatte es nicht geschafft. Er war nicht dazu in der Lage.
Milan rannte in eine dunkle Gasse voller Lagerhäuser hinein. Auch hier, wo es deutlich ruhiger war, drosselte er nicht sein Tempo. Am Ende der Gasse kam er in einen kleinen Park, der ungefähr so groß war wie ein Häuserblock. Er war nur spärlich beleuchtet, doch Milan konnte ein metallisches Rohr ausmachen, das circa einen Meter über der Oberfläche quer durch die ausgetrocknete Grünanlage verlief. Milan betrat den Park und ging auf das Rohr zu. Es war mit Graffiti und gekritzelten Liebeserklärungen beschmiert. Der Park war dreckig und zugemüllt. Auf der anderen Seite des Rohres lehnten sich ein paar Obdachlose dagegen. Sie unterhielten sich und tranken. Das Rohr führte Milan zu einem Wasserkanal, der komplett ausgetrocknet war und Berge von Abfall enthielt: aufgeplatzte Mülltüten, Dosen und Gefäße, Schrott aller Art, sogar ein altes, verrostetes Fahrrad.
Milan nahm die Halbautomatik aus seiner Sakkotasche und betrachtete sie eine Weile. Diese Waffe hatte bereits zwölf Menschen in den ewigen Schlaf versetzt. Sie hätte fast auch einem dreizehnten Opfer das Leben genommen, aber Milan war daran gescheitert. Jetzt verstand er, was es bedeutete, einen Menschen zu töten. Auf einmal wurde ihm klar, wie blind er gewesen war. Er hatte sich von Stein irreführen lassen. Er hatte Verletzlichkeit mit Freundschaft verwechselt, Abhängigkeit mit Solidarität. Steins Argumente hatten ihn überzeugt, aber sie waren die Argumente eines Irren.
Er holte weit aus und warf die Pistole in den Kanal. Ein lauter metallischer Klang ertönte, als die Waffe gegen den restlichen Müll prallte. Der Lärm hallte durch die Nacht. Die Obdachlosen unterbrachen ihr Gespräch und horchten, aber Milan war leise wie ein Tier. Im düsteren Licht der Parkbeleuchtung sah Milan, dass die Waffe neben einer alten Ölkanne gelandet war, auf der das Wort Exitus stand.
Milan entfernte sich von den obdachlosen Männern und kramte sein Handy aus der Hosentasche hervor. Er rief eine Nummer an, die er schon langer nicht mehr gewählt hatte. Er wartete sehnsüchtig auf das erste Klingeln. Als am anderen Ende der Leitung schließlich Zenis Stimme ertönte, spürte er eine Welle der Erleichterung, und die Liebe, die er vom ersten Moment an für sie empfunden hatte, stieg wieder in ihm hoch.
»Hallo, Milan«, meldete sie sich überrascht.
Er hatte kaum genug Kraft zu sprechen. »Hallo, Zeni ...«
Zeni musste die Verzweiflung und Müdigkeit in seiner Stimme bemerkt haben, denn sie sagte sofort: »Was ist passiert, Milan?«
»Es tut mir leid, Zeni«, erwiderte er im Flüsterton. »Du hattest recht. Ich hätte Stein gleich der Polizei übergeben müssen. Er ist kein Held. Das weiß ich jetzt.«
Auf einmal füllten sich seine Augen mit Tränen. Er schluckte und kämpfte dagegen an.
»Hat dir Stein etwas angetan?«, fragte Zeni besorgt.
»Nein. Gar nichts«, versicherte er ihr. »Stein ist zu Hause. Er hat mir nichts getan. Aber ich ... Ich wollte ihn umbringen. Peter Kriel. Ich stand ihm gegenüber. Aber ... ich konnte es nicht.«
Er hörte, wie Zeni tief Luft holte. »Wo bist du gerade?«, fragte sie.
Milan schaute hoch. Erst dann sah er das Polizeirevier auf der anderen Straßenseite. Der beleuchtete Eingang verriet den Namen der Dienststelle. Es war das Präsidium, in dem einst Zenis Vater gearbeitet hatte. Der Ort, an dem er auch gestorben war.
Als ihm das bewusst wurde, durchfuhr Milan eine neue Entschlossenheit. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte.
»Ich bin im Park«, antwortete er. »Gegenüber des Präsidiums. Ich gehe gleich da rein und werde der Polizei sagen, wo Stein zu finden ist. Es ist vorbei, Zeni. Es ist endlich vorbei.«
Wieder schwieg Zeni einen Augenblick lang. Dann sagte sie: »Warte dort auf mich. Mein Cousin fährt gleich in die Stadt. Dann können wir zusammen hingehen.«
Milan war überrascht.
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