Justin Mallory 01 - Jäger des verlorenen Einhorns
Mallory. Er ging ein paar Fuß tiefer in die Seitenstraße. »Wie sieht es hier aus?«
Sie sprang vom Briefkasten, ging zu der Stelle, wo Mallory stand, schnupperte und zuckte erneut die Achseln.
Mallory blickte die matt beleuchtete Straße entlang, auf der sich praktisch keine Fußgänger bewegten. Mehrere angrenzende Gebäude waren saniert worden, und eines davon trumpfte mit einem hell beleuchteten Freiluftrestaurant auf. Im eisigen Regen waren die meisten Tische unbesetzt, aber an einem saßen zwei Männer. Einer von ihnen, der mit dem Rücken zu Mallory saß, trug einen Trenchcoat und einen Filzhut, während der andere, viel kleinere Mann ihm gegenüber in einem abgegriffenen Zweireiher steckte und sich fortwährend mit einem großen Seidentaschentuch den Regen aus dem Gesicht wischte. Während Mallory auf sie zuging, stellte er fest, dass sie Schach spielten.
»Na ja, wir müssen schließlich irgendwo anfangen«, sagte Mallory und gesellte sich zu den Schachspielern. Er blieb einen Augenblick lang neben ihnen stehen, während sie weiterhin konzentriert aufs Schachbrett blickten, und räusperte sich schließlich. »Verzeihung.«
»Nichts für ungut«, antwortete der Mann im Trenchcoat, ohne vom Schachbrett aufzublicken. »Gehen Sie einfach wieder.«
»Ich frage mich, ob ich mich womöglich nach etwas erkundigen darf«, beharrte Mallory.
»Sie dürfen«, sagte der Mann. »Wahrscheinlich antworte ich Ihnen jedoch nicht.«
»Es würde nur eine Sekunde dauern.«
Der Mann blickte gereizt auf. »Es dauert jetzt schon zwanzig Sekunden.« Er wandte sich an den Gegenspieler. »Das sollte lieber nicht zu Lasten meiner Zeit gehen.«
»Doch, natürlich tut es das«, sagte der kleinere Mann mit einem leicht nasalen Akzent, den Mallory nicht einordnen konnte. »Erinnerst du dich an den V-J-Day? Ich bin aufgestanden und habe gejubelt, und du hast mir dafür eine volle Minute meiner Zeit abgezogen.«
»Das war etwas anderes«, erwiderte der Mann im Trenchcoat. »Niemand hatte gesagt, du solltest aufstehen.«
»Es war patriotisch.«
»Es war deine Entscheidung, patriotisch zu sein. Ich persönlich habe mich gerade einfach nur um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, als dieser rücksichtslose Tölpel an mich herantrat.«
»Neununddreißig Tage, acht Stunden, sechs Minuten und sechzehn Sekunden, und die Zeit läuft weiter«, erklärte der kleinere Mann entschieden.
Der Mann im Trenchcoat blickte wütend zu Mallory auf. »Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!«, blaffte er.
»Ich habe gehört, wie sie über den V-J-Day gesprochen haben«, sagte Mallory. »Spielen Sie wirklich seit dem Zweiten Weltkrieg?«
»Seit dem 4. Februar 1937, um genau zu sein«, erklärte der kleinere Mann.
»Wer liegt vorn?«
»Ich habe einen Bauern verloren«, antwortete der Mann im Trenchcoat.
»Ich meine, wie viele Partien hat jeder von Ihnen gewonnen?«
»Was für eine saublöde Frage! Ich hoffe, Sie denken nicht, ich würde hier an Silvester im Regen sitzen, wenn ich ihn schon geschlagen hätte.«
»Sie haben ihn noch nie geschlagen?«, fragte Mallory. »Warum versuchen Sie es dann weiter?«
»Er hat mich auch noch nie geschlagen.«
»Sie beide müssen einen Rekord in aufeinanderfolgenden Remis aufgestellt haben«, bemerkte Mallory.
»Wir haben noch nie remis gespielt.«
Mallory blinzelte sich den Regen aus den Augen. »Damit ich das auch richtig verstehe«, sagte er schließlich. »Sie spielen dieselbe Partie jetzt seit 1937?«
»Mehr oder weniger«, bestätigte der Mann im Trenchcoat.
»Schach dauert nicht so lange«, sagte Mallory.
»Wenn wir es spielen, tut es das«, entgegnete der kleinere Mann mit einem Hauch Stolz.
»Richtig«, pflichtete ihm sein Gegenspieler bei. »Das Spielen selbst ist es, worum es geht - zumindest für das Wiesel und mich.«
»Das Wiesel?«, fragte Mallory.
»Das bin ich«, erklärte der kleinere Mann mit einem bescheidenen Lächeln. »Und er ist Trenchcoat.«
»Haben Sie keine richtigen Namen?«
»Wir wissen, wer wir sind«, sagte Trenchcoat und zündete sich eine schiefe Camel-Zigarette an.
»Und Sie sitzen seit damals an dieser Stelle?«
»Im Grunde nicht«, antwortete Trenchcoat. »Wir haben in einer Kneipe unten im Village angefangen, aber sie hat vor etwa dreißig Jahren den Pachtvertrag verloren.«
»Vor zweiunddreißig Jahren, um genau zu sein«, korrigierte ihn das Wiesel. »Also spielen wir hier im Grunde erst seit etwa einem Dritteljahrhundert.«
»Nonstop?«,
Weitere Kostenlose Bücher