K
klemmt ihn sich zwischen Arm und Hüfte und läuft mit großen Schritten durch den Krypta-Park zurück zum Tor.
»Unfähig!«, schluchzt Maureen, als sie an der Krypta vorbeikommen. Auf der Bank davor stehen noch Teekanne, Phiole und Honigglas. »Unfähig und arrogant! Können nicht mal auf das aufpassen, was sie zum Glück noch haben …«
Sie bleibt zwischen den von Obelisken gekrönten Säulen des Eisentores stehen, stellt den Jungen auf dem Rasen ab, hält ihn an den Schultern fest und küsst ihn auf beide Wangen. Serge windet sich und versucht, ihr zu entwischen, aber sie hält ihn gefangen.
»Ich lass dich nie wieder aus den Augen, bis du… «, beginnt sie, verstummt dann aber, küsst ihn noch einmal, zieht ihn wieder in die Arme und geht dann entschlossen zum Haus. Frauen sehen von der Maulbeerwiese herüber. Hinter den Frauen treiben Bilder und geometrische Figuren flach und unbemerkt auf dem Wasser dahin, das sich um die Mauern des Krypta-Parks wälzt und stumm seinem Lauf folgt.
3
I
Unter dem mittleren Treppenaufgang des Haupthauses, jenem, über dem der Wandteppich mit dem Bild eines Treppenhauses hängt, sieht man ein Photo von Jacques Surin. Es ist eine frühe Daguerreotypie – eine der allerersten. Wenn Besucher danach fragen, sei es aus Höflichkeit oder aus echtem Interesse, wird ihnen eine Geschichte aufgetischt, die Versoies Bewohner schon so oft gehört haben, dass sie in ihren Ohren längst wie eine biblische Erzählung klingt, eine vom Exodus oder den Plagen, in der eine lange Reihe von »er zeugte den« und »jener zeugte jenen« vorkommt.
Sie geht etwa folgendermaßen: Als Surin im November 1796 von seinem kurz zuvor verstorbenen Vetter – dem Baron de Saint-Surin, der in Niedersachsen lebte und den er nie persönlich kennenlernte, der aber wie er selbst réfugié in zweiter Generation war – einen Chrysopras-Ring erhielt, eine runde Dose aus Meißner Porzellan, eine goldene Medaille von Prinz Heinrich von Preußen und einen erklecklichen Geldbetrag, brach er seine Zelte in London ab und erwarb in West Masedown ein großes Stück Land, dem er den Namen Versoie gab. Dorthin brachte er seine ganze zugleich menschliche, animalische, pflanzliche und mechanische Entourage: Seidenspinner und Färber, die für ihn in Shoreditch gearbeitet hatten, Kanarienvögel, deren Gezwitscher den Lärm der Maschinen übertönt, seine Nachbarn aber nichtsdestoweniger verärgert hatte, Raupen und Maulbeerbäume, die rein und
unverfälscht von hundertneun Jahre zuvor aus La Rochelle geschmuggelten Larven und Setzlingen abstammten, sowie einen Webstuhl, dessen Ab- und Aufbau eine Herausforderung darstellte, die nicht minder respektgebietend als jene war, denen sich die Architekten von Akropolen und Mausoleen gegenübergesehen hatten. Zur Unterbringung all dessen ließ Surin – der sich trotz der Tatsache, dass seine sämtlichen Nachfahren wie auch wiederum deren Nachfahren weiblichen Geschlechts waren, gern als einen modernen Noah präsentierte – in der Südwestecke des neu erworbenen Gutes einen Komplex von Häusern und Werkstätten errichten, die durch Türen, Korridore und Höfe untereinander verbunden waren. Aus dem Garten hüpft nun Surins vielfacher, quecksilbrige sieben Jahre alter Urenkel Serge ins äußerste dieser Gebäude, die Brutkammer.
Hier sieht er zwei kniende Frauen, die sich über offene Schachteln beugen. Die Schachteln sind schmal und flach, etwa von der Größe eines Tabletts oder eines Schminkköfferchens. Die Deckel wurden abgenommen, damit die Frauen sehen können, wie die Motten ihre Eier ablegen. Es sind weibliche Motten vom Stamm der Gliederfüßer: Bombyx mori. Sie haben cremeweiße, geschuppte Flügel, und die Deckflügel überzieht ein bräunliches Fadenmuster. Mit ihren haarigen Leibern kriechen sie langsam, wie benommen, über den mit Papier ausgelegten Schachtelboden und halten nur hin und wieder inne, um aus ihrer Genitalregion weitere winzige, schwarze Kügelchen fallen zu lassen. Die rudimentäre Mundöffnung sondert eine gummiartige Substanz ab, die mit den Beinchen über das Papier geschmiert wird: Die abgelegten Eier bleiben daran kleben, schwarze Tüpfel auf Weiß. Erst vereinzelt und weit verteilt, vermehren sich die Punkte allmählich zu kleinen Konstellationen, dann zu Galaxien aus abertausend schwarzen Sternen. Rücken diese dunklen Wolken so dicht aneinander,
dass der leere Raum dazwischen gänzlich ausgefüllt zu werden droht, greifen sich die Frauen eine
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