K
schlaff werden und nach vorn sacken. Ein Flügel bricht; die Maschine krängt, und die Erde kommt ihnen entgegen. Als sie auf die Rauchwolke zufliegen, dringt die Albatros erneut in Serges Sichtfeld. Sie schwebt über ihm, ein leuchtend helles Objekt am sich verdunkelnden Himmel, und endlich sind die quer über ihre Unterflügel geschriebenen Worte lesbar. In schwarzer altdeutscher Schrift steht vor rotem Hintergrund:
Kennscht mi noch?
Der Himmel fällt fort, doch die Frage bleibt. Sie scheint rund um das Flugzeug aufzuflackern, die Erde mit einer Bedeutung zu schwängern, deren Essenz ihm entgeht. »Kennst du mich noch?«, fragen ihn die aufgepinselten Worte. Während er darauf wartet, dass die Erde ihn aufliest, überlegt er, wer mit »mich« gemeint ist und auf welche Zeit, welches Tempus, welchen Moment das »noch« verweist. Die RE8 fängt sich ein wenig. Ein letzter, düsterer, in die Länge gezogener Drachenballon
huscht brennend vorbei. Das Flugzeug prallt mit etwas zusammen, der Erdboden ist es noch nicht: Es fühlt sich wie ein Dämpfer an, wie eine weiche Grenze, hinter der die Luft ein schweres, träges Gewebe ist. Er kann dieses Gewebe überall um sich herum spüren – kann es sogar sehen: Es ist seidig, umhüllt seine Schultern, fängt die ganze Maschine ein, dünne Fasern, die sich hinten im Sog ausbreiten und wieder zusammenziehen wie die Tentakel einer Qualle und so die Welt verdrängen. In seinem Baldachin wird das Gesumm der Holme und Flugzeugdrähte verstärkt und doch gedämpft; das Licht wird gefiltert und glüht nur noch. Dann wird es ganz abgedunkelt, der Klang ausgeblendet, und es ist nichts mehr.
III
Als er aufwacht, verdeckt brauner Stoff seine Sicht. Er liegt direkt über seinen Augen: ein diagonales Muster, das sich auch nicht ändert, wenn er nach links oder rechts blickt. Beim Einatmen riecht er wieder schweren, honigsüßen Mösenduft. Er fährt sich mit der Hand ans Gesicht und tastet über Céciles Strumpf. Die Gucklöcher sind Richtung Mund verrutscht; in eines steckt er einen Finger und zieht sich das ganze Ding vom Kopf. Doch wird seine Sicht immer noch durch Stoff behindert: Das weiße, seidige Zeug, das sich beim Absturz um die Maschine wickelte, umhüllt ihn wie ein Beutel. Serges Blick wandert zu den dünneren Fasern am Heck – und sieht am Ende in etwa fünf Metern Entfernung eine menschliche Gestalt im Gurtwerk auf dem Boden liegen.
»Ein Fallschirm«, sagt er zu Gibbs. »Auf dem Weg nach unten haben wir einen Fallschirm mitgenommen.«
Seine Stimme klingt seltsam gedämpft: Er kann sich selbst hören – aber nur lautlos, im Kopf. Und Gibbs scheint
ihn auch nicht zu verstehen: Er gibt keine Antwort – falls doch, ist seine Stimme für Serge nicht laut genug. Er dreht sich um. Gibbs ist tot. Innereien aus seiner Brust sind im Cockpit verspritzt. Serge löst die eigenen Gurte, hievt sich aus dem Sitz und lässt sich auf den seidenbedeckten Boden sinken. Die Hände gegen Wände und eine Decke aus Seide gestemmt, bahnt er sich einen Weg durch den weichen, weißen Schlauch zur Öffnung bei den Leinen, taucht daraus auf und stupst den daran festgegurteten Mann an. Auch er ist tot, beim Sturz mit dem Kopf auf der Erde aufgeschlagen. Bestimmt ist er aus dem brennenden Fesselballon gesprungen, nur um erleben zu müssen, dass sein Fallschirm von ihrer Maschine horizontal beziehungsweise in einem diagonalen Sinkflug mitgeschleift wurde.
Serge blickt sich um. Die Landschaft ist nichtssagend, braun und verwüstet wie die Front überall. Knapp zwanzig Meter neben ihm hüpft ein Teil von ihr in die Luft, als eine Granate einschlägt. Die Explosion verläuft stumm: Es ist, als sähe Serge einen von Widsuns Filmen. Selbst der Windstoß und die Erdklumpen, die ihm ins Gesicht spritzen, fliegen ihm ohne Ton zu. Er fängt einen dieser Klumpen auf, öffnet die Hand und untersucht ihn. Von Nahem betrachtet, hat die Erde eine ähnliche Auflösung wie jene Photographien, die er für Pietersen gemacht hat, pockennarbig und mit Rastern überzogen. Aus Mitleid lässt er sie fallen: Sie wurde oft genug aufgewühlt. Während er ihr nachsieht, stellt er fest, dass er immer noch eine Erektion hat. Verlegen schaut er sich um, ehe ihm einfällt, dass sonst niemand da ist. Er könnte überall sein. Die Tatsache, dass sie einen deutschen Ballonfahrer, Exfahrer, im Absturz mitgenommen haben, lässt vermuten, dass sie nach Osten geflogen sind, und in diesem Fall … Sollte er das Flugzeug verbrennen?
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