K
murmelt Serge zu Gibbs. »Den Medizinkasten auffüllen.«
Gibbs zuckt die Achseln. Er hat den Trick mit dem Kokain im Auge probiert, kann dem Schniefen aber nichts abgewinnen und hat erst recht nichts dafür übrig, sich das Zeug in den Arm zu spritzen. Serge dagegen kann sich einen Flug ohne Diacetylmorphin gar nicht mehr vorstellen. Seit Monaten fährt er jetzt rüber nach Mirabel, wo er, jedenfalls nach Ansicht des dortigen Verpflegungsoffiziers, der für die medizinische Versorgung seiner Staffel zuständige Offizier darstellt. Kaum betritt Serge das Boot, setzt er sich eine Spritze ins Handgelenk; und als sein Blick auf Céciles Strumpf fällt, in dessen Gewebe er zwei runde Gucklöcher geschnitten hat, hebt er ihn auf, zieht ihn sich über den Kopf und atmet kurz einen Hauch ihres honigsüßen Genitaldufts ein. Auf dem Weg nach draußen nimmt er noch zwei weitere Spritzen mit und bleibt kurz stehen, um einen Blick auf den Fluss und die Pappeln zu werfen, die in all der Aufregung so still und unbeteiligt wirken. Er kann hören, wie die Motoren auf dem Flugfeld angeworfen werden, wie die ersten Maschinen durchs
lange Gras gleiten. Das Diacetylmorphin beginnt zu wirken, als er durch das Wäldchen zurück zu seiner RE8 eilt und den Manövern der Flugzeuge ausweicht, die zur Startbahn rollen, kurz innehalten und dann wenden, einander in Startposition folgen, den Tanz beginnen und das Donnern der Motoren zu Symphonien vereinen, in denen jeder Akkord voller Andeutungen steckt…
Auf dem Flug zur Front hat Serge das gleiche Gefühl, das ihn gegen Ende seiner Zeit in Klodĕbrady bei den Massagen mit Tania stets überkam. Die ganze Front macht den Eindruck, als sei Wochenende. Keine runden, weißen Ballone stehen am Himmel; in den Gräbern flackern keine blauen, roten Lichter. In der Luft hängt kein Korditrauch, keine Dunstglocke, nichts. Fast sieht es aus, als wären alle Kriegsbemühungen eingestellt oder aber auf salopp umgestellt worden, weshalb Formalitäten nicht mehr so wichtig sind und folglich alles möglich scheint. Als Serge zur englischen Front kommt, fällt ihm eine Veränderung in Zusammensetzung und Färbung der Landschaft auf. Ihre bislang blasse, wie verwaschen wirkende Oberfläche wird jetzt von stacheligen Pünktchen verdunkelt. Sie sind überall, dicht an dicht wie Ameisen.
In der relativen Stille fällt es Gibbs nicht schwer, sich zu Gehör zu bringen, als er nach hinten zu Serge ruft:»Soldaten!«
Sie fluten aus den Gräben, betüpfeln die Ringe und Mandalas der zerbombten Straßen und Wege. Mancherorts kann Serge in ihrer Masse Unterabteilungen ausmachen, semiseparate Einheiten, dann wieder sind die Einheiten so groß, dass sie ineinander verlaufen und er keinen Grund und Boden mehr erkennen kann. Doch anders als Ameisen bewegen sie sich nicht: Mit nach oben gerichteten Bajonetten warten sie zusammengepfercht auf das Signal zum Vorrücken. Serge langt zwischen seine Beine, wickelt die Kupferantenne ab, testet die Signale und dirigiert Gibbs über ihre behelfsmäßige,
durch einen Halbkreis weißer Tücher gekennzeichnete Empfangsstation, die ihnen statt mit Popham-Streifen mittels einer sich öffnenden und schließenden, schwarzweißen Jalousie O. K. zumorst. Dann drehen sie wieder zur Front ab und schrauben sich in die Höhe. Die heutige Route weicht ein wenig von der normalen ab; eine Änderung, die das eigenartige Gefühl noch verstärkt, das mit dem Verstummen der Kanonen aufkam. Die Männer in den deutschen Gräben scheinen die Änderungen gleichfalls zu spüren, scheinen zu merken, dass etwas Neues auf sie zukommt: Sie sind viel zu nervös, um ihnen mehr als nur ein paar Pro-forma-Leuchtspurgeschosse hinaufzuschicken. Selbst die deutschen Fesselballone verstoßen gegen das Protokoll: Sie stehen die ganze Front entlang so hoch wie möglich am Himmel. Der Ballon, der unter seinem Heck auftaucht, denkt nicht einmal daran, sich außer Schussweite kurbeln zu lassen, so sehr ist er darauf bedacht, die versammelten Pünktchen auf der anderen Seite in den Blick zu bekommen – und Serge, gefangen im Bann derselben Erwartung, macht sich gar nicht erst die Mühe, einen Schuss auf ihn abzufeuern.
Auf dreieinhalbtausend Fuß Höhe beziehen sie unmittelbar vor der deutschen Seite Position. Serge schaut nach oben und sieht die SE5 hoch über ihnen in Formation patrouillieren. Er blickt auf die Uhr: achtundzwanzig Minuten nach elf. Er schaut nach unten: Das Schlachtfeld ist ruhig, wie erstarrt; nur
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