Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
der heruntergekommenen Umgebung ab, verfallenden Reihenhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert und leeren Fabriken, die bereits für die Sanierung in Abschnitte unterteilt waren.« 42
Es war ein Ort, der Fehler nicht leicht verzieh. Immer wieder stand ich auf der falschen Seite eines hohen Metallzauns und starrte durch das gläserne Auge der Überwachungskamera einen unsichtbaren Wachmann an; oder ich stieg resigniert in einen menschenleeren Londoner Bus ein und hielt meinen Fahrausweis an das Kartenlesegerät – ständig wurde ich vom Sog des »Systems« erfasst, ständig ging ich ihm ins Netz. Dies war ohne Zweifel Ballards Welt, auch wenn ihr Zweck jenseits seiner Vorstellungskraft lag. East India Quay ist der Inbegriff des »Supermodernen«, jenes zweischneidigen Begriffs, mit dem man die Mischung aus eleganter, aalglatter Architektur und tiefer Einsamkeit zu greifen versucht, aus allgegenwärtigen Überwachungskameras und verlorenen Seelen. In Hochhaus beschreibt Ballard den Eindruck des Protagonisten, er sei »fünfzig Jahre in der Zeit vorwärtsgereist, weg von überfüllten Straßen, Verkehrsstaus, [und] U-Bahn-Fahrten in der Stoßzeit«, weg von der schmutzigen, alten Metropole in eine sauberere Zukunft. 43 Die Beschreibung Ballards erschien mir auf derart unheimliche Weise prophetisch, dass es kaum zu glauben war, dass das Viertel erst fast zwanzig Jahre später fertiggestellt wurde. Am East India Quay liegt etwas unverkennbar Futuristisches in der Luft – die ausgeprägte Geruchlosigkeit eines gänzlich von Unternehmen geformten Ortes; der von unsichtbaren Kräften umrissene Genius Loci. Dieser Ort schien an jeder Ecke beweisen zu wollen, dass die Realität schräger war als die Fiktion. Oder konnte es sein, dass die Realität eine Nachahmung der Fiktion war?
Jenseits der Themse war das mondweiße Dach des Millennium Dome aufgespannt, genau über dem Nullmeridian, eine Art kosmische Bekräftigung seiner Wichtigkeit. Die Haltestelle East India selbst liegt hundert Meter westlich der östlichen Hemisphäre. Die großen Internetgebäude säumen einen großen, leeren Platz wie in einem Ausstellungsraum für überdimensionierte Küchenherde, eines stählerner als das andere. Es gibt keine Schilder, was insofern schade ist, als die Namen der Mieter glatt von Ballard stammen könnten: Global Crossing, Global Switch, Telehouse. Weit und breit kein Fußgänger und kaum Verkehr, nur hier und da ein weißer Lieferwagen mit dem Logo einer Telekommunikationsfirma oder ein an der Endhaltestelle wartender roter Doppeldeckerbus. Die Straßen haben ihren Namen von den Gewürzen, mit denen die Ostindienkompanie handelte, die einst hier ihre Docks hatte: Nutmeg Lane, Rosemary Drive, Coriander Avenue. Der einzige konkrete Überrest aus der Vergangenheit war jedoch ein Stück der Backsteinmauer, die früher die Docks umgeben hatte. Neben einem künstlichen, von Trauerweiden beschatteten Teich schlug eine Bronzeskulptur aus zwei engelgleichen Figuren einen seltsam optimistischen Ton an – geflügelte Siegesgöttinnen, die vom Triumph des Rechenzentrums kündeten.
Die Geburtsstunde des Viertels als ein Drehkreuz des Internets schlug 1990, als ein japanisches Bankenkonsortium das »Telehouse« eröffnete, einen Stahlbetonturm, der speziell für Großrechner ausgelegt war. Auf einer Luftaufnahme aus der Zeit sieht man, wie er aus einer Industriebrache in den Himmel wächst; der einzige Nachbar ist die Druckerei der Financial Times (mittlerweile ebenfalls ein Internetgebäude). Angezogen wurden die Banken unter anderem von den finanziellen Anreizen, die mit dem Status der Docklands als Fördergebiet einhergingen und den Strukturwandel im Viertel beschleunigen sollten, nachdem die Schifffahrt zu den Tiefwasserhäfen themseabwärts abgewandert war. Der Hauptgrund war jedoch ein guter alter Bekannter: Die Baustelle befand sich an einer der wichtigsten Kommunikationsadern. Unter der Autobahn A13 verliefen dicke Glasfaserstränge wie ein unterirdischer Fluss. Was in New York Gültigkeit hatte, galt auch hier: Die Leute gehen dorthin, wo was los ist . Und das Telehouse kam gerade erst so richtig in Schwung.
Kaum war das Gebäude fertiggestellt, wurde London von einer Serie von Bombenanschlägen der IRA erschüttert, und die Banken beeilten sich, Reservearbeitsplätze für »Notfälle« einzurichten. Innerhalb kurzer Zeit füllte sich das Telehouse mit menschenleeren Großraumbüros, in denen jeder Schreibtisch ein Backup für
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