Käfersterben
auch immer das war. Es wäre Katinka lieber gewesen, Dani gleich hier zu treffen, auf den sanft abfallenden Wiesen, im Schatten der Hecken. Das schroffe Plateau jagte ihr unerwartet Angst ein. Sie wusste, dass immer wieder Leute an den Felsen verunglückten. Genaue Zahlen kannte sie nicht, aber sie nahm an, dass es sich um Kletterer handelte, die die Gefahren des karstigen Steins und der Schwerkraft unterschätzten.
Sie zögerte, als der Pfad sie ins Dunkel führte. Der Waldboden war matschig, vollgesogen mit dem Regen der letzten Tage. Katinka wich ins Dickicht aus und umrundete die morastigen Stellen. Sie musste die Taschenlampe zu Hilfe nehmen. Der Pfad wurde sehr steil. Dann stieß sie auf rohe, steinerne Treppenstufen. Erstaunt stellte sie fest, dass sie exakt unterhalb der Staffelbergklause aus dem Wald trat.
Tatsächlich war das Wirtshaus geschlossen. Katinka sah auf die Uhr. Sie zeigte kurz nach neun. Noch eine knappe Stunde warten. Katinka lehnte sich auf der Terrasse der Klause gegen die Brüstung und blickte über das Tal nach Nordosten. Inzwischen war die Basilika beleuchtet. Feine Nebel stiegen aus dem Wald, dünn wie die Atemwolke eines Menschen an kalten Tagen. Am samtblauen Himmel zeigte sich eine hauchdünne Mondsichel. Fast Neumond, dachte Katinka. Das wird eine dunkle Nacht, wenn die Sonne erstmal untergegangen ist. Eine idiotische Idee, zu Fuß hier hinaufzusteigen, sie würde in absoluter Finsternis den Rückweg antreten müssen.
Katinka drehte sich um. Sie meinte, Schritte zu hören. Aber alles blieb still. Um sich die Zeit zu vertreiben, klaubte Katinka alle Geschichten über den Staffelberg aus ihrem Gedächtnis, die sie jemals gehört hatte. Es gab diese Legende, dass ein mächtiger Fisch im Bauch des Berges wohnte und seinen Schweif im Maul hielt. Sollte er jemals den Schweif aus dem Maul lassen, würde der Berg zerspringen und das gesamte Maintal überfluten. Katinka erinnerte sich daran, wie sie während einer archäologischen Exkursion mit ein paar Kommilitonen auf dem Bauch liegend das Ohr an das harte, stachelige Gras auf dem Plateau gepresst hatte, um die Bewegungen des Fisches zu hören. Einige hatten über soviel Kindlichkeit gewitzelt. Aber es hatte Spaß gemacht, das Märchen für bare Münze zu nehmen.
Katinka stand auf und ging zu der Schautafel, die Auskunft über die Epochen der Besiedelung des Berges und die zahlreichen archäologischen Funde gab. Natürlich wusste sie sehr viel mehr als das, was in der dürren Tabelle zusammengefasst war. In ihrem Kopf war die Geschichte lebendig, sie rumorte, leuchtete, duftete und stank mitunter sogar. Katinka würde nie verstehen, dass andere Geschichte auf Jahreszahlen reduzierten. Jahreszahlen waren völlige Nebensache. Für Katinka ging es um das Brodeln im Magen, wenn sie sich vorstellte, die Zeit wie eine Ziehharmonika auffalten zu können und vom Heute zurück ins Jahr 50 ante Christum zu wechseln. Sie stapfte weiter und hielt sich brav auf dem Außenweg, wie ein Schild es empfahl. Sie wusste, dass die Gegend um den Staffelberg und natürlich vor allem der Berg selbst ein guter Platz für Heilkräuter war. Vor der keltischen Burgmauer blieb sie stehen. Es handelte sich nur um eine Rekonstruktion. Dennoch vermittelte sie eine Ahnung, wie imposant und geschickt angelegt die wirkliche Burg gewesen war. Heckenrosen rankten sich im dahinterliegenden Dickicht. Das warme Licht verhexte ihre Farben. Sie leuchteten in einem so intensiven Rot, dass Katinka blinzeln musste.
Gegen bessere Einsicht verließ sie den Außenweg und querte das Plateau. Sie kam an der Adelgundiskapelle vorbei. Die Tür war verschlossen. Zwei runde Gucklöcher gaben den Blick ins Innere frei. Es war schon fast zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber die Abendsonne schien durch die Kapellenfenster und zauberte rote und orangefarbene Flecken auf die Gesichter der Heiligen. Sie sahen aus, als seien sie über irgendetwas in Verlegenheit geraten.
Auf der Westseite blieb Katinka lange stehen und blickte in die untergehende Sonne. Schloss Banz auf der gegenüberliegenden Seite des Maintals lag im Schatten. Hier fielen die Felsen steil ab. Eine besonders gefährliche Stelle war von einem Holzgeländer umgeben. Das Querkelesloch, dachte Katinka. Nichts anderes als eine vor Urzeiten vom Wasser ausgespülte Höhle. Damals hatte die ganze Gegend unter der Wasseroberfläche gelegen. Ohne das schützende Geländer würde man auch bei größter Vorsicht leicht in das Loch
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