Kälteeinbruch (German Edition)
starrte auf das Display, das den einzigen Menschen auf der Welt zeigte, den er liebte. Seine Schwester. Viktorija. Er schloss die Augen. Sah sie vor sich. Bis eben war er der Überzeugung gewesen, alles käme wieder ins Lot. Doskino stünde bei der ganzen Sache trotz allem auf seiner Seite. Doskino wollte Bernandas wieder in Vilnius haben. Nun begriff er, dass nichts so war, wie er es sich vorgestellt hatte.
Das Handy klingelte auf dem Boden. Es vibrierte und hüpfte dabei auf ihn zu. Im Liegen las er die Nummer. Sie gehörte nicht Doskino. Er drückte auf die Annahmetaste, ohne sich zu melden.
«Hello? Bernas?»
Er erkannte den Akzent. Es war der Pizzabäcker aus Malmö.
«Ich hör dein Geheule bis hier», fuhr Arturas fort, «was wohl bedeutet, dass du endlich dein Handy eingeschaltet und die Nachricht gesehen hast?» Im Hintergrund rauschte es. Als säße er bei offenen Fenstern in einem fahrenden Auto oder stünde auf einem großen Platz. «Nimmst du jetzt vielleicht endlich Vernunft an?»
«Yes …», antwortete Bernandas leise. Das Handy lag immer noch auf dem Boden.
«Wusstest du, dass sie noch Jungfrau war?» Arturas lachte. «Gehört schon einiges dazu, heutzutage noch eine Zwanzigjährige zu finden, die Jungfrau ist.»
Arturas machte eine Pause. Bernandas sagte nichts.
«Mmm. Schätze mal, Doskino hätte einen guten Preis für sie bekommen. Jetzt geht sie wahrscheinlich für ein Butterbrot über den Ladentisch.»
Bernandas hörte Arturas am anderen Ende der Leitung kichern.
«Begreifst du jetzt den Ernst der Lage, Bernas? Ich gebe dir eine Dreiviertelstunde. Wenn du bis dahin nicht am Treffpunkt bist, garantiere ich dir, dass deine Schwester auf dem nächsten Bild weitaus weniger lebendig aussehen wird.»
Das Display wurde dunkel. Darius stellte sich neben ihn. Beugte sich zu ihm hinunter und knuffte ihn am Arm. «Was ist los?», wollte er wissen.
Bernandas blickte zu ihm hoch. Er hätte nie gedacht, dass es ihm einmal schwerfallen würde, zwischen seiner Schwester und etwas anderem zu wählen. Nun war dieser Fall eingetreten. Und egal wie er sich entschied, es wäre falsch. Am Tag zuvor hatte er das Schotterwerk wieder verlassen, weil ihm der gesamte Ort eine Gänsehaut und ein ungutes Gefühl im Magen bereitet hatte und weil er der Überzeugung gewesen war, Arturas käme, um die Kinder zu töten. Nicht, um sie mitzunehmen. Sondern um sie umzubringen.
Dasselbe würde er nun auch mit Bernandas tun.
Ohne etwas zu sagen, blieb er zehn Minuten liegen. Darius stand die ganze Zeit neben ihm. Leonas stellte sich hinter den Älteren und blickte ängstlich auf den Mann hinunter, der sie hierhergebracht hatte. Bernandas schaute weg. Er war außerstande, sie anzusehen, denn er hatte seine Entscheidung getroffen.
Kapitel 43
Anton nippte an dem lauwarmen Kaffee in seiner Tasse und dachte darüber nach, wie es Nils Jahr wohl in seiner Zelle im Polizeirevier Stadtmitte erging. Ob die Angst ihn bereits gepackt hatte oder ob ihm der Schweiß fürs Erste nur kalt den Rücken herunterlief. Ob er inzwischen kapiert hatte, dass ihm hier weder sein flottes Mundwerk noch sein prallgefüllter Geldbeutel in irgendeiner Weise aus der Patsche helfen würden. Dann kam ihm eine Idee.
Er sprang von seinem Stuhl auf. Warf sich die Lederjacke über, die er achtlos auf Kvals Schreibtisch geworfen hatte, und preschte aus der Tür. Eilte den Gang hinunter und stieß voller Schwung die Glastür auf. Zwei Gesichter blickten von dem gelben Sofa am Fenster auf, von dem aus man die Ambulanz in Sarpsborg sehen konnte.
«Wo willst du hin?», fragte Torp.
Anton verminderte sein Tempo, steuerte jedoch weiter auf die Treppe zu. «Nach Oslo.»
«Oslo?», fragte Kval. «Was willst du denn dort?»
«Äh … ich muss mal kurz ins Büro.» Seine Füße erreichten die oberste Treppenstufe.
«Okay», sagte Kval so laut, dass Anton ihn hören konnte, «dann fahr ich jetzt heim und genehmige mir was zu essen. Hab eine SMS von meiner Frau bekommen. Sie hat zum Abendessen Schweinekoteletts mit Salsasoße, Zwiebeln, Broccoli und Pilzen gemacht.»
Anton blieb wie angewurzelt auf der Treppe stehen. Drehte sich um und konnte von seinem Standort aus gerade noch Kvals Kopf sehen. «Ist das auch in etwa das, worauf ich mich an Heiligabend gefasst machen muss?»
Kval lachte laut auf. «Nein, da gibt es tatsächlich Kartoffeln.»
«Gott sei Dank. Andernfalls hätte ich am vierundzwanzigsten Dezember womöglich den ersten Migräneanfall meines
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