Kälteeinbruch (German Edition)
worden sei. Bernandas konnte gern auch bar bezahlen, und zum Dank dafür, dass der Junge ihm keine Schwierigkeiten machte, hatte er ihm fünfzig Euro zugesteckt. Die Kinder waren müde und mussten schlafen.
Wie schon in der Nacht und am Vormittag ließ Bernandas Mielkos die Vorhänge offen. Ein Lastzug mit schwedischem Kennzeichen fuhr donnernd auf den Parkplatz vor dem Motel und parkte zwischen den Zapfsäulen der stillgelegten Tankstelle nebenan. Bernandas blieb stehen. Spähte wie eine neugierige Nachbarin nach draußen. Wartete, bis der Fahrer aus der Kabine sprang. Auch dieses Mal war es nicht Arturas.
Er stand neben dem Bett. Seine Augen waren inzwischen so müde, dass er sie nur unter Schmerzen offen halten konnte. In den vergangenen sechs Tagen hatte er kaum mehr als zehn Stunden geschlafen. Fast bedauerte er, dass er kein Crystal Meth gefahren hatte. Dann wäre die Müdigkeit sein geringstes Problem. Der kurze Zeiger der analogen Uhr auf dem Nachttisch näherte sich der Drei. Der lange würde sich bald an der Zwölf vorbeischieben. Fünf nach drei wollte er abfahren. Nicht früher. Nicht später. Er wollte sich in den dichten Verkehr auf der E 6 mischen, der während der Hauptverkehrszeit in beiden Richtungen unterwegs war, und unbemerkt über die schwedische Grenze rollen. Anschließend würde er Stockholm ansteuern, die Fähre nach Estland nehmen und von dort direkt nach Vilnius fahren. Sobald er bei Doskino war, würde sich alles klären. Er war davon überzeugt, dass er ihn überreden könnte, die Jungen laufenzulassen. Leonas und Darius könnten da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Das war zwar nicht das Leben, das sie verdient hatten, im Vergleich zu dem, was ihnen hier bevorgestanden hätte, jedoch das reinste Paradies.
Sein Handy war aus gewesen, seit gestern Nachmittag in Skjærhalden der Akku schlappgemacht hatte, und obwohl er das Handy im Auto wieder aufgeladen hatte, hielt sich sein Bedürfnis, es wieder einzuschalten, in Grenzen. Er wusste, dass ihn ohnehin nur bissige SMS oder Anrufe von Doskino erwarteten. Doch nun war er dazu gezwungen. Seine Schwester machte sich sicher furchtbare Sorgen. Ein kurzes Gespräch mit ihr, dann würde er es wieder ausschalten.
Er gab den PIN -Code ein. Sah zu, wie die Verbindung zum litauischen Telefonanbieter aufgebaut wurde.
«Zieht eure Pullis an», sagte er zu den beiden Jungen, die hinter ihm auf dem Doppelbett saßen. «Wir wollen gleich los.»
Gerade als die beiden vom Bett sprangen, gab das Handy ein lautes Piepen von sich. Er starrte auf das Display. Eine Textnachricht mit Bild. Gesendet von Doskinos Nummer.
Das Foto war von schräg oben aufgenommen worden. Die weiße Bluse war über die eine Schulter gerutscht. Am Bildrand war eines ihrer Beine zu sehen – nackt. Die Oberlippe war geschwollen und aufgesprungen. Der Mund halb geöffnet. Die Augen tränennass. Die linke Wange war dick. Die geplatzten Äderchen unter der Haut um das rechte Auge fächerten sich wie die Blätter einer Rose auf. Bald würde dort ein Veilchen blühen. Der Blitz erhellte ihr von Rotz und Tränen verschmiertes Gesicht. Das Kinn hatte sie nach vorne gereckt, was dem Arm geschuldet war, der ihre langen Haare nach hinten riss. Bernandas war sofort klar, wem dieser schlaffe Arm gehörte.
Unter dem Bild stand: «Jei norite matyti ja vėl, jums parodyti.»
Wenn du sie wiedersehen willst, komm zum Treffpunkt.
Das Handy rutschte ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Er blieb stehen und starrte auf seine leeren, zitternden Hände. Ihm wurde schwindlig. Mit einer Hand tastete er hinter seinem Rücken nach dem Bett. Er berührte die Decke. Ließ sich auf die weiche Matratze plumpsen. Auf dem Boden ging etwas zu Bruch. Bernandas lag quer auf dem Bett und starrte die Deckenpaneele an. Dieselben Paneele hatte er in der vergangenen Nacht unzählige Male gezählt, während er Darius’ und Leonas’ leichtem Schlaf gelauscht hatte. Mit jedem Schlag schien sein Herz innerlich zu explodieren. Dann kam es ihm vor, als würde ihn etwas vom Bett hochziehen. Er packte den Nachttisch und schleuderte ihn mit einem lauten Schrei durch den Raum. Sein Kopf hämmerte, als befände sich alles Blut auf dem Weg nach oben. Darius hatte sich vor Leonas gestellt, als befürchtete er, Bernandas’ Wut könnte jeden Moment über sie hereinbrechen. Bernandas’ Beine begannen zu zittern. Dann knickten sie ein.
Bernandas Mielkos brach auf dem Boden zusammen. Zusammengekauert und weinend lag er da und
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