Kälteeinbruch (German Edition)
Gesicht.
Bernandas Mielkos schlug die Augen auf. Das Gesicht, in das er starrte, war halbiert worden. Was von den langen, schwarzen Haaren noch übrig war, wurde von Blut und Hirnmasse bedeckt.
Darius’ lebloser Körper lag zu Leonas’ Füßen. Als Bernandas die kreisförmige rote Stelle auf der Stirn des Jungen sah, wurde ihm klar, dass Arturas sich im Kampf um Leben und Tod nicht versehentlich selbst erschossen hatte. Das Kaliber seiner Handfeuerwaffe hätte ihm nicht das halbe Gesicht weggepustet. Bernandas rollte sich zur Seite. Weg aus dem Flutlicht der Autoscheinwerfer. Wer hatte dann geschossen? War Arturas in Begleitung eines weiteren Mannes gewesen, der katastrophal danebengetroffen hatte? War die Kugel für ihn selbst bestimmt gewesen? Er starrte in die Dunkelheit. Konnte nicht weiter sehen als bis zum Auto. Es war zu dunkel.
«Leonas», flüsterte Bernandas. «Komm zu mir.»
Leonas stand wie versteinert im Licht.
Oben auf dem Bergrücken hörte Bernandas ein Rascheln im Unterholz.
«Geh aus dem Licht, Leonas.» Er sprach nun lauter.
Das Rascheln kam näher. Er wusste, dass er erledigt wäre, wenn er sich auf das Auto zubewegen würde. Er sah wieder zu Leonas. War sich nicht sicher, ob der Junge ihn überhaupt gehört hatte. Er stand reglos da und starrte auf Arturas’ entstelltes Gesicht.
Zwei laute Kläffer ertönten am Fuße der Felswand, wo diese in ebenes Gelände überging. Er sah Leonas an. Dann begriff er, dass der Mann auf der Anhöhe nicht zu Arturas gehören konnte. Sonst wäre Leonas ebenfalls längst tot. Es musste die Polizei sein. Sie würde sich um Leonas kümmern. Er rannte los.
«Fass!», befahl Adam Miller dem Boerboel und schulterte sein Präzisionsgewehr, ein Steyr SSG .
Er nahm das Nachtsichtgerät ab. Der andere, dem nicht klar war, dass Adam sie beide mit einem einzigen Schuss hatte töten wollen, rannte davon und verschwand hinter der Kuppe. Er hatte einen soliden Vorsprung.
Der Boerboel holte immer weiter auf.
Adam folgte der Spur des Hundes, rannte den Berghang hinunter. In der Ferne hörte er den Boerboel aggressiv bellen. Gefrorene Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er setzte das Nachtsichtgerät wieder auf und beschleunigte das Tempo. In der kurzen Zeit, die er sich dort oben aufgehalten hatte, hatte sich das Kind keinen Millimeter bewegt.
Adam rannte auf den Jungen zu. Packte ihn im Laufen und klemmte ihn sich wie einen Rugbyball unter den Arm.
Bernandas musste an die Sportstunde denken, die er als Sechzehnjähriger erlebt hatte. Bei der er auf der Aschenbahn vier Runden lang sein Äußerstes gegeben hatte und es dennoch nicht gereicht hatte. Als der Sportlehrer ihn zum Gespött der ganzen Klasse gemacht hatte. Die Schmach hatte sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt. Nie zuvor hatte er sich so gedemütigt gefühlt, so voller Scham. Aber nicht einmal damals auf der Aschenbahn war er so schnell gerannt wie jetzt.
Er überlegte, ob er etwas spüren würde. Ob er nach dem Schuss noch lange genug am Leben wäre, um etwas zu empfinden. Würde es schnell gehen? Er stellte sich vor, dass ihn im selben Moment, in dem der Schuss in seinen Rücken eindrang, eine enorme Hitze und ein unerträglicher Schmerz überkommen würden, alles jedoch innerhalb von einer Sekunde vorbei wäre. Vielleicht nicht einmal das.
Hinter ihm war nun nicht mehr nur das Bellen zu hören. Vier Pfoten trommelten rhythmisch auf die gefrorene Erde. Der Hund musste groß sein. Riesig. Er wagte nicht, sich umzusehen.
Bernandas packte den Griff der Autotür, riss sie auf und sprang in den Wagen. Schlug die Tür hinter sich zu. Zwei behaarte Pfoten kratzten an der Scheibe.
Er hörte eine Männerstimme rufen. Der Hund verschwand. Bernandas riss das Lenkrad um 180 Grad herum und bog schlingernd auf die Straße.
Kapitel 47
Das herrschaftliche Einfamilienhaus thronte hoch oben am Ende des Gregers Grams Vei. Tagsüber konnte man von hier aus weit über den Oslofjord blicken. Das Anwesen bestand aus einem Haupthaus und einem Nebengebäude. Sie waren durch einen überdachten Gang miteinander verbunden, der zugleich den Eingangsbereich bildete.
Anton bremste vor dem offenen Tor. Beugte sich über das Lenkrad und blickte die lange, kopfsteingepflasterte Auffahrt hinauf. Ihm kam der Gedanke, dass man Häusern wie diesem keine unangemeldeten Besuche abstattete. Er war schon öfter hier vorbeigefahren, jedoch ohne zu wissen, dass Herlov Langgaard in diesem Haus wohnte, der Mann, der sich eines
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