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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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soviel ich weiß, kein Einziger zufrieden stellend hin, wenn man sie mit dem Anspruch auf eine gewisse Einheitlichkeit hört. Die verschiedensten namhaften Pianisten haben sich an die Interpretation gewagt, aber bei allen zeigen sich auffällige Mängel. Bis jetzt existiert nicht eine makellose Interpretation. Und warum wohl nicht? Was meinst du?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Weil die Stücke selbst unvollkommen sind. Robert Schumann, der ein hervorragender Kenner von Schuberts Klavierstücken war, bemerkte, sie hätten eine ›himmlische Länge‹.«
    »Aber wenn sie unvollkommen sind, warum haben sich dann so viele namhafte Pianisten damit auseinander gesetzt?«
    »Gute Frage«, sagt Oshima. Er lässt eine Pause entstehen, und die Musik füllt das Schweigen. »Genau erklären kann ich das nicht. Nur eins kann ich sagen: Ein unvollkommenes Stück zieht die Menschen gerade durch seine Unvollkommenheit stark an – zumindest einen gewissen Typ von Mensch. Dich hat zum Beispiel Der Bergmann angezogen. Dieses Buch besitzt eine Anziehungskraft, die vollkommenere Werke wie Kokoro oder Sanshiro nicht besitzen. Du hast dieses Werk entdeckt. Oder das Werk hat dich gefunden. Mit Schuberts Sonate in D-Dur ist es das Gleiche. Sie berührt einen auf ganz einmalige Weise.«
    »Aber um auf die erste Frage zurückzukommen – warum hören Sie denn die Schubert-Sonaten gerade beim Autofahren?«
    »Die Sonaten von Schubert, besonders die in D-Dur, sind kaum Kunst zu nennen, wenn sie einfach so heruntergespielt werden. Sie sind zu idyllisch und langatmig und, wie schon Schumann bemerkt hat, auch technisch zu schlicht. Wenn man sie konventionell spielt, klingen sie nichtssagend und antiquiert und haben keinen Stil. Also wenden die Pianisten alle möglichen technischen Kniffe an. Zum Beispiel, sie spielen sie sehr artikuliert. Oder sie spielen rubato, das heißt, sie beschleunigen oder verzögern das Tempo. Und wenn sie das nicht tun, spielen sie fast ohne Zäsuren. Aber wenn man nicht sehr gut aufpasst, können solche Kunstgriffe dem Werk auch die Würde nehmen, und auf einmal ist es gar nicht mehr Schuberts Musik. Ausnahmslos alle Pianisten, die Schuberts Sonate in D-Dur spielen, leiden unter diesem Widerspruch.«
    Eine Weile lauscht Oshima der Musik; an einigen Stellen summt er mit. Dann fährt er fort.
    »Ich höre Schubert beim Autofahren, eben weil er fast immer in irgendeiner Hinsicht unvollkommen interpretiert wird. Diese brillante, dichte Unvollkommenheit stimuliert das Bewusstsein und schärft die Sinne. Wenn man beim Autofahren vollkommene Musik in vollkommenen Interpretationen hört, möchte man einfach nur die Augen schließen und sterben. Aber wenn ich die Sonate in D-Dur höre, erkenne ich die Grenzen menschlichen Könnens und mir wird klar, dass sich Vollkommenheit nur in einem Wust von Unvollkommenheit manifestieren kann. Das spornt mich an. Verstehst du das?«
    »Irgendwie schon.«
    »Schlimm, was?«, sagt Oshima. »Bei diesem Thema gerate ich immer ganz außer mir.«
    »Aber es gibt doch wohl ganz verschiedene Arten und Grade von Unvollkommenheit«, sage ich.
    »Natürlich.«
    »Nur zum Vergleich – wessen Interpretation der D-Dur-Sonate fanden Sie bisher am besten?«
    »Schwierige Frage«, sagt er.
    Er denkt nach. Dabei schaltet er herunter, wechselt auf die Überholspur, fährt zügig an einem großen Kühllaster vorbei, schaltet wieder und kehrt auf die Fahrspur zurück.
    »Ich will dir keine Angst machen, aber ein grüner Roadster ist nachts auf der Autobahn kaum zu sehen, besonders vom Fahrersitz eines Lasters aus. Er ist flach, und die Farbe verschmilzt mit der Dunkelheit. Wenn man nicht aufpasst, kann das sehr gefährlich werden. Besonders in einem Tunnel. Eigentlich sollte ein Sportwagen rot sein, Das ist auffälliger. Deshalb sind auch so viele Ferraris rot«, sagt er.
    »Aber ich mag Grün. Auch wenn es gefährlicher ist. Grün ist die Farbe des Waldes. Und Rot die des Blutes.«
    Er sieht auf seine Armbanduhr und singt wieder ein Stückchen mit.
    »Gemeinhin gelten wohl die Interpretationen von Brendel und Ashkenazy als die besten, aber mir gefallen sie, offen gesagt, gar nicht so gut. Das heißt, sie berühren mich nicht. Schubert fordert mit seiner Musik meiner Meinung nach etwas heraus und scheitert daran. Darin besteht das Wesen der Romantik, und in diesem Sinne ist Schuberts Musik die Quintessenz der Romantik.«
    Ich lausche der Sonate.
    »Findest du die Musik langweilig?«
    »Ziemlich«, sage ich

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