Kains Erben
bedeutet weder für sie noch für dich, dass du von niemandem stammst. Ich denke, Matthew spürt dasselbe wie wir alle: Du bist nicht von niederer Abkunft. Das mag einen Mann zu dem Schluss bringen, er sei nicht gut genug für dich.«
»Aber das ist doch Unsinn!«, platzte sie heraus. Sooft sie darüber nachdachte, erschien es ihr genau andersherum: Sie war nicht gut genug für Matthew, für sein Gut im Norden, seinen adligen Stammbaum.
In Toms Gesicht kehrte das Lächeln zurück. »Sollte ich ihn sprechen, werde ich ihm deine Worte wiederholen.«
»Tut das«, versetzte sie wütend. »Und sagt ihm auch, er ist ein elender Feigling und soll sich auf etwas gefasst machen.«
»Das Letzte verschweige ich ihm lieber. Welcher elende Feigling würde sich sonst noch blicken lassen?«
Sie lachten zusammen, aber Amicias Erleichterung war gespielt. »Wirst du nun wieder zu uns ins Haus ziehen?«, fragte Tom. »Dass einer meiner Gäste im Stall schläft, verletzt, um es frank zu sagen, meine Gastwirtsehre.«
Sie versprach ihm, in dieser Nacht wieder in ihrer Kammer zu schlafen, doch viel lieber wäre sie im Stall geblieben. So allein, wie sie sich fühlte. Von allem abgetrennt.
Mit dem Licht und der Wärme war es über Nacht vorüber. Graue Nebel begrüßten die Tage und erinnerten Amicia daran, dass ein Jahr vergangen war, seit Matthew nach Quarr gekommen war und ihr Leben an dessen dünnen Wurzeln ausgerissen hatte. Das trübe Wetter hatte etwas Unheimliches, weil es die Unterschiede zwischen den Tageszeiten verwischte. Ein Tag glitt lautlos in den anderen über, und alles erschien wie ein einziger Tag, der nie verstrich.
Noch einen Sonntag, einen Kirchgang lang ertrug Amicia das Warten, dann fällte sie um ihrer geistigen Gesundheit willen einen Entschluss. Matthew hatte sein Versprechen gebrochen – das berechtigte sie, das ihre ebenfalls als nicht gültig zu betrachten. Sie würde Toms Haus verlassen, auf eigene Faust nach Matthew suchen und ihn zur Rede stellen. Wie sie ihn unter den knapp hunderttausend Menschen in diesem Moloch von Stadt finden wollte, war vorerst nicht von Bedeutung. Nur nicht länger in stillen Räumen sitzen und der Zeit beim Sterben zusehen! Nur nicht länger tatenlos sein.
In einer jener grauen Morgenstunden, die einander allesamt glichen, brach sie auf. Magdalene schlief noch, und Dolasilla würde gebeugt über dem Herdfeuer stehen und in dem Topf mit Frühstücksgrütze rühren. Da Amicia nicht annahm, dass sonst im Haus jemand lesen konnte, schrieb sie eine Nachricht für Hugh auf einen winzigen Fetzen, den sie von einer Seite ihres Buches abgerissen hatte. Sie sei gegangen, um Luft zu schnappen, und bis zum Abend zurück, quetschte sie darauf und schob ihm den Streifen unter der Tür durch. Dann zog sie sich das Wolltuch fester um die Schultern und verließ das Haus.
Leichter Regen fiel, und es herrschte eine trostlose Kälte, die weder biss noch klirrte, sondern allmählich unter alle Kleider kroch. Eine Kälte, die die Sehnsucht vergrößerte, in ein Haus voller Menschen zu gehören. Umherzuirren und nicht einmal ein Ziel zu kennen war viel härter, als sie es sich vorgestellt hatte. Trauben von Menschen trieben an ihr vorüber, ein jeder in eine bestimmte Richtung, zu einem Ort, an dem man ihn erwartete. Immer wieder rempelte jemand sie an, weil sie die Einzige war, die ohne Eile dahintaumelte. Hätte sie umkehren sollen, sich zu Dolasilla in die Küche stellen und ihr beim Austeilen des dampfenden Frühstücks helfen? Noch während Amicia sich die Frage stellte, ging sie weiter. Jetzt unverrichteter Dinge umzukehren hätte ihr die letzte Spur Hoffnung geraubt.
Da eine Richtung so gut wie die andere war, entschied sie sich, den Weg zur Kathedrale einzuschlagen. Der Turm, der alles überragte, war nicht zu verfehlen, und der Bau, von dem Matthew gesagt hatte, er werde nie fertig, interessierte sie. Was für Menschen besaßen den Übermut, ihr Gotteshaus so nah an den Himmel zu rücken? Dass sie ausgerechnet dort auf Matthew stoßen würde, war zwar mehr als unwahrscheinlich, aber sie hoffte, in den geheiligten Räumen Einkehr zu finden, und wollte Gott bitten, ihr bei ihrer Suche den Weg zu weisen.
Es war schwieriger, als Amicia es sich vorgestellt hatte. Die Kathedrale blieb zwar von jedem Punkt aus sichtbar, aber die verwinkelten Gassen bildeten ein dichtes Gewirr, sodass sie alle paar Schritte neu entscheiden musste, welchen Weg sie einschlagen wollte. Sie hatte ihr Pferd
Weitere Kostenlose Bücher