Kains Erben
nicht mitgenommen, weil sie keine geübte Reiterin war und fürchtete, das Tier nicht durch die Menschenströme lenken zu können. Jetzt wünschte sie, sie säße zu Pferd und hätte dadurch zumindest Abstand von dem Gedränge und einen Überblick. Zweimal spürte sie, wie eine Hand sich unter ihre Kleider schlich – ob mit dem Ziel, dort eine nicht vorhandene Börse abzureißen, oder um die Formen einer jungen Frau zu ertasten, wusste sie nicht. Der Zweite, ein zahnloser Alter, entwischte nicht schnell genug und fing sich einen Hieb übers Ohr.
Amicia rannte los, doch kurz darauf steckte sie schon wieder in einem Menschenknoten fest und musste sich winden wie ein Aal, um weiteren Händen zu entkommen.
Als die Straßen breiter wurden und das Getümmel sich lichtete, atmete Amicia auf. Sie hielt inne, um die Fassaden der Häuser zu betrachten, und fand das Bild so sehr verändert, als ginge sie durch eine andere Stadt. Die Häuser waren schmaler und höher, sie entdeckte Inschriften, die sie nicht entziffern konnte, und fremdartige Zierleisten an Simsen und Türstöcken. Die vielen Steinbauten kündeten von Wohlstand, und die Straßen waren erstaunlich sauber, und doch haftete dem Viertel etwas Heruntergekommenes an, als sei die einstige Pracht nur mehr eine Last für die darbenden Bewohner. Zweimal stieß sie auf eine verkohlte Ruine, die nichts mehr enthielt, das von menschlichem Alltag kündete. Es gab keine Straßenverkäufer und keine Feuer, an denen sich Huren wärmten. Schleppenden Schrittes führte ein Mann ein Eselfuhrwerk die Gasse hinunter. Sonst war kein Mensch unterwegs.
Etwas – möglicherweise die Fremdartigkeit der Gegend, möglicherweise aber auch die beklemmende Stille – legte sich schwer auf Amicias Gemüt. Dass der Himmel finster war, half so wenig wie der Regen, der beständig dichter wurde. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie bereits seit Stunden unterwegs sein musste und keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Der Turm der Kathedrale schien nahe zu sein – aber würde sie ihn auf geradem Weg erreichen? Nichts wünschte sie sich in diesem Augenblick so sehr, wie unter dem Kirchendach Licht und Trockenheit zu finden und ein wenig Mut zu schöpfen.
Amicia beschleunigte ihren Schritt. Wieder stellte sich die Frage: Sollte sie die Gasse zur Rechten oder die zur Linken wählen? Menschenleer waren beide. Die zur Rechten war länger einsehbar und schien sich zum Ende hin zu öffnen. Sie entschied sich für diese – vielleicht würde sie dort, wo sie sich verbreiterte, schon den Weg zur Kathedrale erkennen.
Wind kam auf und wehte Amicia den Regen in Böen ins Gesicht. Mit einer Hand klammerte sie ihr Schultertuch vor der Brust zusammen, dann begann sie zu rennen. Am Ende der Gasse, wo sie sich einen Weg aus dem Viertel hinaus erhofft hatte, stand ein steinernes Haus, das die übrigen überragte und gut doppelt so breit war. Ein Ladenschild mit fremden Schriftzeichen hing über der Tür. Gerade als Amicia daran vorübereilen wollte, traten Leute heraus.
Ein schlanker junger Mann führte eine junge Frau am Arm. Sie trug einen gestreiften Schleier über dem Haar und hielt ein schlafendes Kind vor der Brust. Das Gehen fiel ihr sichtlich schwer. Ihnen folgte ein weiteres Paar mit einem älteren Kind, einem Mädchen von vielleicht acht Jahren. Die Frau dieses Paares war hochgewachsen und hatte einen auffällig schönen Gang. Auch sie hatte ihr Haar verschleiert. Der Mann neben ihr trug einen der seltsamen Hüte auf dem schwarzen Haar.
Amicia blieb so abrupt stehen, dass sie um ein Haar auf der nassen Straße ausgeglitten wäre. Sie kannte den Mann!
Im selben Augenblick hatte auch er sie entdeckt. Sein Blick war ein Spiegel des ihren. Das Wort, das seine Lippen formten, war nicht zu hören, nicht der Entfernung oder des Regens wegen, sondern weil er es stimmlos aussprach. Sie hörte es dennoch. Es war ihr Name. »Amicia. Amsel.«
Er kannte sie, und sie kannte ihn, sie wusste seinen Namen so wie er den ihren. »Vyves!«, schrie sie über die Straße und rannte ihm entgegen. »Mein Vyves!« Mit einem Mal hatte sie vor nichts mehr Angst. Der Mann, der erstarrt vor dem Haus stand, war ihr Vertrauter. Er gehörte zu ihr.
22
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ärtlich ließ Cyprian die Riemen durch seine Hand gleiten. Viele Männer seines Standes behaupteten, das schlanke Werkzeug sei nicht mehr zeitgemäß, es gebe heutzutage raffiniertere Mittel, die verlässlicher zum Ziel führten. Cyprian aber konnte diese Ansicht nicht
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