Kains Erben
die Abläufe in der Stadt durcheinander. Deshalb dauerte es mehrere Tage, bis Amicia hörte, was Tom im Tower in Erfahrung gebracht hatte. Nach dem Abendessen kam er zu ihr in den Stall. »Du und die kleine Magdalene, ihr braucht euch nicht länger zu sorgen«, war das Erste, was er sagte. »Auch wenn eure Furcht wohl berechtigt war. Der junge Herr von Camoys ist tatsächlich der Familientradition gefolgt und hat ein paar Wochen als Gefangener des Towers verbracht. Nach Prüfung seines Falls hat er jedoch Vergebung für die verspätete Ankunft erlangt und durfte den Tower als freier Mann verlassen.«
Amicia hätte den korpulenten Gastwirt am liebsten umarmt. »Und es geht ihm gut? Man hat ihn nicht misshandelt?«
Tom lächelte. »Wenn du mich fragst, ist es durchaus Misshandlung, einen Mann in einen zu kleinen Raum zu sperren, ihm schlecht zu essen zu geben und ihm grausamste Strafen anzudrohen. Allerdings habe ich so manchen Kumpan, der behauptet, diese Art der Misshandlung sei die beste Vorbereitung auf die Ehe.«
Amicia musste ebenfalls lachen. »Ich wüsste gern, was die Frauen Eurer Kumpane dazu sagen. Was macht Matthew jetzt? Ist er noch immer nicht fertig mit dem Exchequer?«
Im Nu verschwand die Heiterkeit aus Toms Gesicht. »Darauf kann ich dir keine Antwort geben. Er ist aufgebrochen, ohne jemanden wissen zu lassen, was er vorhatte.«
»Wie lange ist das her?«
Tom war anzusehen, dass er sich vor der Auskunft gern gedrückt hätte. »Drei Wochen«, bekannte er schließlich. »Es besteht bestimmt kein Grund zur Sorge …«
Amicia hörte nicht länger, was er sagte. In ihren Ohren hallten lediglich zwei Worte: drei Wochen . Seit drei Wochen war Matthew auf freiem Fuß, sein Auftrag war ausgeführt, doch er hatte es nicht für nötig gehalten, sich bei ihr blicken zu lassen. Dass er ihr versprochen hatte, so schnell wie möglich zurückzukommen, dass sie krank vor Sorge um ihn gewesen war und vor Sehnsucht kaum bei Sinnen, bedeutete ihm nichts. Vermutlich hatte er eine andere gefunden, mit der es sich leichter vergnügte als mit ihr, der Niemandsfrau. Wer wusste schon, was man sich mit einer wie ihr eingehandelt hatte?
Gleich darauf rief sie sich zur Ordnung. Wer war sie? Ein verschmähtes Bräutchen, dem Eifersucht das letzte bisschen Verstand vernebelte? Wozu hatten kluge Männer sie das Denken gelehrt, gewissenhaftes Prüfen, Fragen und Forschen? Sie würde sich verbieten, Schlüsse zu ziehen, die auf allzu heftigen Gefühlen beruhten, statt auf kühlen, klaren Gedanken. Was immer Matthew abhielt, sich an ihre Vereinbarung zu halten, Amicia wollte sich nichts zusammendichten, sondern die Wahrheit von ihm selbst einfordern.
»Geht es dir gut?«, fragte Tom behutsam. »Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?«
Amicia besann sich. »Ja«, erwiderte sie unverblümt. »Ihr könntet mir erklären, weshalb Ihr gesagt habt, Matthew sei mit der Gefangenschaft einer Familientradition gefolgt. Was stimmt nicht mit seiner Familie? Was für ein Verbrechen hat sie begangen?«
»Und wenn es das Schlimmste wäre, das sich denken ließe«, entgegnete Tom, »würde das an dem Menschen, den du kennst, etwas ändern, oder an deinem Wunsch, ihm eine Gefährtin zu sein?«
Was war das schlimmste Verbrechen, das sich denken ließ? Verrat, lautete wohl die Antwort; darauf stand neuerdings die unmenschliche Strafe des Hängens, Schleifens und Vierteilens. Aber was bedeutete das? Wenn sich unter Matthews Verwandten Verräter befanden – was hatte das mit ihr zu tun, mit dem, was sie und ihn verband? Der König, die Regierung, all das war meilenweit von ihrer Wirklichkeit entfernt, es schien in eine andere Welt zu gehören, deren Regelwerk sie nicht verstand. Entschieden schüttelte Amica den Kopf. »Nein, es würde nichts ändern. Weshalb sollte ausgerechnet eine wie ich sich um die Herkunft eines Menschen scheren?«
Tom zögerte eine Weile, ehe er antwortete. »Nun, natürlich weiß ich nichts über deine Herkunft«, sagte er dann. »Aber ich erkenne doch, dass du auftrittst wie eine junge Dame, die von sehr feinen Menschen erzogen worden ist.«
»Das wurde ich!«, rief Amicia ohne einen Augenblick des Zauderns. Jäh dachte sie an Magdalene, die in einem Bordell hatte aufwachsen müssen. Sie war Randulph dankbar – zum ersten Mal, seit er sie aus Quarr verstoßen hatte.
»Matthew de Camoys mag dich mit ebensolchen Augen sehen«, sagte Tom. »Du hast dein Gedächtnis verloren wie die kleine Magdalene, aber das
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