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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Dennoch hätte Edward vermutlich, ohne mit der Wimper zu zucken, jeden Einzelnen von ihnen geopfert, wenn dieser es verdient hätte. Auch zum Begräbnis seines geliebten Sohnes war er nicht nach Westminster gereist, sondern er hatte sich der Notwendigkeit gefügt und stattdessen in Wales die Sicherung seines Sieges abgeschlossen. Darin eben war er ein anderer König als sein Vater, der die Familie stets an erste Stelle gesetzt und sich damit eine Natter im eigenen Nest herangezüchtet hatte. Es war ausgerechnet Henrys gehätschelter Schwager Simon de Montfort gewesen, der ihn um ein Haar zu Fall gebracht hätte.
    Edward hingegen war hart wie ein Schmiedehammer und kannte keine solchen Schwachheiten. Und er, sein treuer Vasall, wollte ihm darin nicht nachstehen! Wie sein König es sich gebot, so tat Cyprian es ihm nach: Wenn dich dein Auge stört, dann reiß es aus. Wie um den Entschluss zu besiegeln, zog er das Schwert.
    Der Schrei des Gefangenen schrillte hässlich in den Ohren, doch er klang im Handumdrehen aus.

23
    V
yves, Vyves, Vyves. Ihr Vertrauter. Ihr Liebster. Ihr bester Freund auf Erden.
    Dass sie sich trennten, in ihr Leben zurückkehrten, nachdem sie einander begegnet waren, stand außer Frage. Es war, als gäbe es kein Leben als das, was sie gerade auf der regennassen Straße des Londoner Judenviertels wiedergefunden hatten, und als bräuchte es auch keines zu geben.
    Von den Menschen, mit denen er das Haus verlassen hatte, um einen Besuch zu machen, löste er sich auf der Stelle. »Amicia. Amsel.« Er hielt sie in den Armen, und ihre Welt erstand auf.
    Carisbrooke. Die Burg auf der Motte, auf der Kuppe des bewaldeten Hügels, die normannische Festung, hinter deren Mauern Kiefern wuchsen, so hoch, dass sie die Türme überragten. Die Gänge, Galerien und Mauern, die zum Klettern und zu endlosen verbotenen Spielen einluden. Carisbrooke. Die große Halle mit dem mannshoch lodernden Feuer, wo den Kindern an Festtagen ein eigener Tisch gedeckt wurde – und ach, die Speisen, unter denen die Tische sich bogen! Mit Eiern gekrönte Kapaune, in gezuckertem Wein brutzelndes Kaninchen, pfeffrige Sauce zu zartem Lammfleisch, Mandelcreme und die klebrigen, nach Ingwer duftenden Süßigkeiten …
    Mitten im Regen musste Amicia lachen und »Weißt du noch?« rufen. Erst dann fiel ihr ein, dass der arme Vyves von all den Köstlichkeiten nicht einmal die Hälfte hatte essen dürfen und dass sie ihn deswegen verspottet hatten.
    »Was weiß ich noch, Amsel?« Er lächelte sie an, als könnte er noch nicht glauben, dass sie kein Trugbild war und nicht wieder verschwand. Über sein Gesicht liefen Ströme von Regen, in die sich seine Tränen mischten. Sie fand ihn wundervoll, wie er weinte und zugleich lächelte. Als der arme Thomas gestorben war, hatte er dasselbe getan, nur hatte es damals nicht geregnet.
    Carisbrooke. Das Gesicht des armen Thomas tauchte vor ihr auf, und dann das seiner Mutter, der er nicht ähnlich sah. Thomas war dicklich gewesen und sein Gesicht leicht schwammig, seine Mutter – Isabel – hingegen war die schönste Frau der Welt. Sie trug Kleider, die keine Königin neben ihr hätte tragen dürfen, weil dann Isabel wie die Königin und die Königin wie ihre Zofe gewirkt hätte. Sie besaß ein geheimes Zimmer, eine verborgene Welt, die den anderen verboten war. Dann und wann war Amicia dorthin eingeladen worden, und eine größere Ehre hatte es nicht gegeben. Isabel schloss die Tür hinter ihnen und löste ihr Gebende, dass ihr Haar ihr bis in die Taille fiel. Das Haar war so dicht, man hätte Seile daraus flechten und Schiffe daran vertäuen können.
    Carisbrooke. Isabels Zimmer mit dem großen Kamin und den warmen Fellen auf den Bodenkacheln. Die steinernen Sitze vor dem Fenster, das nach Norden hinausging, auf die Motte, die Weiden in der Ebene und die um den Fluss geschmiegte Stadt Newport. Hierher, vor das Fenster, setzte sich die majestätische Isabel mit ihr und zeigte ihr den Reichtum der Insel, während still vor dem Fenster der Abend aufzog. In dem Kelch, den Isabel in der Hand hielt, funkelte kirschroter Wein, und etwas streichelte sie beide, eine ferne, schöne Erinnerung.
    Amicia hatte sich wichtig gefühlt, wenn sie bei der Burgherrin hatte sitzen dürfen. Und sie hatte sich wichtig gefühlt, wenn Vyves am Morgen aus dem Haus seines Vaters trat und als Erstes ihren Namen rief. Das war sie auf Carisbrooke gewesen: ein wichtiges, geliebtes Kind, umgeben von Erwachsenen, die sie

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