Kains Erben
nicht mehr bewegt hast. Ich war sicher, du bist tot, Vyves!«
»Als ich zu mir kam, war ich sicher, du bist tot.«
Sie drängten sich aneinander, als wollten sie sich vor mehr schützen als vor dem Regen. Er breitete seinen Mantel um sie, doch der war nass und hielt die Kälte nicht ab.
»Aber wir sind nicht tot«, schienen sie beide zugleich zu sagen. Dann setzte die Folge der Bilder von Neuem ein. Gleich würde auch das eine erscheinen, an das Amicia sich nicht heranwagte. Stattdessen schob sich das Bild von Thomas à Becket vor ihr Auge: der betende Erzbischof mit dem in Demut gebeugten Nacken. Der Laut, der sich ihrer Kehle entwand, klang fremd und nicht menschlich.
»Komm«, sagte Vyves leise und führte sie in das Haus, aus dem er gekommen war. Die Wärme, die ihr entgegenschlug, überwältigte sie, der Duft von sauberem Tuch und einem süßen Gewürz. Es war ein prächtiges Haus.
Vyves geleitete sie eine Treppe hinauf und drückte sie dabei so fest an sich, als fürchte er, sie auf dem Weg zu verlieren. Das Zimmer, dessen Tür er aufschob, war groß und lag im Halbdunkel. Amicia erkannte nur Umrisse von Möbeln, einen Tisch mit Krug und Waschschüssel, zwei Truhen und drei Bettstellen. Auf einer davon saß eine kleine alte Frau, die vermutlich geschlafen hatte und durch ihr Eintreten wach geworden war.
»Mutter!«, rief Vyves sie leise, und nun erkannte auch Amicia die Frau, wenn sie auch hundert Jahre älter zu sein schien, als sie sie in Erinnerung hatte. »Mutter, sieh, wer gekommen ist. Meine Amsel Amicia. Meine Amsel von Carisbrooke.«
Sie waren nicht gestorben. Weder Vyves, dem die Männer den Schädel eingeschlagen hatten, noch Amicia selbst, die sie in einen Sack gestopft und nach Quarr verschleppt hatten.
Gestorben war nur Abel. Ein kleiner Junge von acht Jahren, der wie ein Gelehrter die Schriften der Kirchenväter las und Priester werden wollte. Abel, der auf dem Rand des Brunnens gekniet hatte, um Segen und Beistand für Amicias Ehe zu erflehen.
Für meine Ehe. In dem halbdunklen Zimmer im Haus der Familie Crespin, in dem Vyves’ Mutter sie an jenem ersten Abend allein gelassen hatte, hatte sie unter ihrem Brustlatz nach dem goldenen Stein getastet und ihn nicht gefunden. Dann fiel es ihr ein: Das Band, an dem der Stein gehangen hatte, war aus Gründen, die nicht länger zählten, zerrissen.
Sie nestelte an den Falten ihres Rocks und fand die Stelle, in die sie ihn genäht hatte. Auf der flachen Hand hielt sie Vyves das Schmuckstück hin. »Wir hatten das gestohlen, nicht wahr? Meinst du, Gott hat uns dafür bestraft?« Aber das waren Kindergedanken, und warum hätte Gott wohl Abel mit dem Tod bestrafen sollen, während er die Übeltäter – Amicia und Vyves – am Leben ließ?
Sie hatten damals, an irgendeinem seligen Tag, ehe ihre Kinderwelt in Stücke brach, beobachtet, wie Adam den Stein im Hof verlor. Sie hatten ihn aufgehoben und behalten, damit Vyves für sie ein Geschenk zur Verlobung hatte. Er war so glänzend zu diesem Zweck geeignet: golden wie ihre Zukunft, klar wie ihre Bindung aneinander und in ihm eingeschlossen die Spinne, das Symbol für Hoffnung und Geduld. Zweifellos gehörte das Kleinod zu den zahllosen Schätzen, die Adam irgendwelchen Leuten abgenommen hatte, die ihre Schulden nicht begleichen konnten. Auf Carisbrooke nannte man Adam deshalb hinter vorgehaltener Hand einen Dieb, und von einem Dieb zu stehlen war doch eine lässliche Sünde? Amicia meinte, die beiden kindlichen Langfinger vor sich zu sehen, die sich in eine schattige Ecke des Küchengartens drückten und das begehrenswerte Gut beäugten.
Vyves strich mit einem Finger über die glatte Oberfläche des Steins. Dann fuhr seine Hand unter sein Hemd und förderte ein angelaufenes Medaillon zutage. Ihm zitterten die Finger, als er es aufschnappen ließ, einen Fetzen Pergament herauszog und ihn Amicia reichte. Die Tinte darauf war verlaufen und das erste Wort des Schriftzugs durch einen Flecken unleserlich, aber Amicias Augen hatten es längst entziffert. Es war ihr Name, Meine Schwester Amicia, die Amsel von Carisbrooke, und es war ihr Bruder gewesen, der ihn in seiner steilen Kinderschrift dort hingeschrieben hatte.
»Du hast es aufgehoben?«, wollte sie fragen, doch in dem Krächzen waren so wenige Worte erkennbar wie in den verwischten Tintenflecken.
Vyves nickte trotzdem. »Ich habe auch gedacht, Gott hat uns bestraft, Amicia. Weil wir ein verbotenes Spiel gespielt haben. Weil ich ein Mädchen
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