Kains Erben
hüteten und umsorgten, und von Freunden, die ihre Welt teilten. Außerdem von wolligen Hunden und Pferden und den Eseln, die das Rad des Ziehbrunnens an schwerem Geschirr bewegten! Oben im Donjon hatte es noch einen Brunnen gegeben, hinter Mauern, für den Fall einer Belagerung.
Amicias Erinnerung zerbrach. Die Folge der fliegenden Bilder riss ab, ihre Farbenpracht wurde schwarz. Wäre sie jetzt mit dem Schwindel und dem Herzrasen allein gewesen, sie hätte das Bewusstsein verloren und wäre gestürzt. So aber fand sie sich in Vyves’ Armen gehalten.
Er sah, was auf ihrem Gesicht geschah, und zog sie fester an sich. »Dass du lebst, Amicia«, murmelte er. »Dass du lebst.«
»Ich habe mein Gedächtnis verloren!«, rief sie, weil es nicht länger warten konnte. »Ich weiß nicht mehr, was uns damals geschehen ist, Vyves, wie du hierhergekommen bist und ich nach Quarr …«
»Nach Quarr, Amicia? Dort, wo die Abtei der weißen Mönche stand?«
»Sie steht noch immer dort.« Amicias Stimme verlor sich. »Ich habe fast elf Jahre dort gelebt, vor den Klostermauern, bei den Hütten der Laien, die das Land bestellen. Ach, Vyves, wenn du dort hingekommen wärst und mich gefunden hättest!«
Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht auf der Insel geblieben, Amsel. Gräfin Isabel hat meinem Vater die Lizenz entzogen, und damit hatten wir nichts mehr dort. Kein Haus, kein Einkommen, kein Bleiberecht.«
»Aber warum denn?« Weitere Fetzen von Erinnerungen kehrten zurück. »Dein Vater war Isabels Finanzier, nicht wahr? Er hat das Geld für ihre Umbauten aufgetrieben, in Carisbrooke wurde doch ständig gebaut! Ich dachte, sie hätte ihn gern – einmal hat sie zu Adam gesagt: ›Elijah Chantor kann kein Christ das Wasser reichen. Auf meinen Juden lasse ich nichts kommen.‹«
Als Amicia sich den Namen Adam aussprechen hörte, lief ein Schauder über ihren Rücken. Adam, das war Isabels Verwalter gewesen, vor dem jeder in der Burg – die Kinder wie die Bediensteten – sich fürchtete. Nur Isabel nicht. Wenn Adam kam, hatte Isabel keine Zeit, mit Amicia am Fenster zu sitzen und ihr den Reichtum der Insel zu zeigen.
»Sie hat gesagt, sie will niemandem mehr Asyl auf ihrer Burg gewähren, der ihrem Kind keine Hilfe geleistet hat«, erklärte Vyves.
»Ihrem Kind?«, fragte Amicia. »Aveline?« All die Jahre lang war der Name für sie verloren gewesen, doch jetzt glaubte sie, die Freundin vor sich zu sehen.
Vyves nickte. »Um sie ging es ja damals, nicht um uns. Wir waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Amicia schreckte vor dem geschwärzten Bild noch immer zurück, nahm jedoch ihren Mut zusammen und fragte mit trockener Kehle: »Was ist mit Aveline geschehen?«
»Sie ist tot, Amicia. Schon seit bald zwölf Jahren. Es heißt, Edmund Crouchback, der Bruder des Königs, habe Isabel heiraten wollen, um die Insel für die Krone zu gewinnen, Isabel aber sei vor der Heiratsverordnung geflohen, habe sich von irgendeinem Ritter in irgendein Kloster schaffen lassen, um dort abzuwarten, bis der Hof sich auf Verhandlungen einließ. Statt sich selbst zu opfern, versprach sie Prinz Edmund Aveline zur Braut und die Insel einem Enkel zum Erbe. Sie hatte allerdings nicht vor, sich an ihre Zusage zu halten. Die Ehe wurde formal geschlossen, doch Isabel versäumte es, Aveline in den Haushalt ihres frisch vermählten Gatten zu schicken. Deshalb entsandte der Hof Männer, die Aveline aus Carisbrooke verschleppen sollten. Die Ehe musste vollzogen werden, denn ohne Sohn kein Erbe. Angeblich wurde Aveline schwanger, aber du kanntest sie ja. Sie war viel zu schwach und ist bald darauf gestorben.«
Amicia senkte den Kopf und schmiegte sich in seinen Arm. »Aber wie hätte dein Vater ihr denn helfen sollen?«, fragte sie. »Dein Vater war doch überhaupt nicht da, als die Männer kamen!«
»Isabel meinte mich«, erwiderte Vyves ohne Ausdruck. »Mich wollte sie nicht mehr auf ihrer Burg haben, weil ich Aveline nicht beigestanden habe. Ich habe keinem von euch beigestanden. Dafür verlor meine Familie alles, was sie sich aufgebaut hatte.«
Der Schmerz und die Schuld, die ihm völlig unverdient aufgeladen worden waren, raubten Amicia den Atem. Mit einem Mal gewann das Bild seine Farbe zurück. »Aber du hast ihr geholfen!«, rief sie. »Du hast dich zwischen Aveline und die Männer geworfen, aber du warst doch noch ein Kind! Einer von ihnen hat dir mit dem Knauf des Schwertes auf den Kopf geschlagen, immer wieder, bis du dich
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